In der Ukraine sind Menschen mit Behinderungen besonders stark vom Krieg betroffen. Da die Flucht fast unmöglich ist, werden sie oft im Kriegsgebiet zurückgelassen. © REUTERS/Alex Babenko
In der Ukraine sind Menschen mit Behinderungen besonders stark vom Krieg betroffen. Da die Flucht fast unmöglich ist, werden sie oft im Kriegsgebiet zurückgelassen. © REUTERS/Alex Babenko

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023: Inklusion Doppelter Schmerz

Von Olalla Piñeiro Trigo. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Für Menschen mit Behinderungen bedeutet Krieg zahlreiche zusätzliche Schwierigkeiten in ihrem Alltag. Vielen ist eine Flucht gar nicht möglich, und falls doch, sind die Aufnahmeländer nicht auf sie vorbereitet.

«Menschen mit Behinderungen sind bereits zu Friedenszeiten mit vielen Hindernissen konfrontiert, in Kriegszeiten werden es noch weit mehr», sagt Laura Mills, die bei Amnesty International über vulnerable Gruppen in Krisensituationen forscht. Laut einer Studie von Ärzte ohne Grenzen haben Menschen mit Behinderungen ein dreimal höheres Risiko, in Kriegen verletzt oder getötet zu werden. So kann schon das Erkennen einer Gefahr schwierig sein: Beispielsweise fällt es einer Person mit einer Sehbehinderung schwerer, Gewaltsituationen zu erkennen. Menschen mit einer Hörbehinderung nehmen Schüsse oder Explosionen in ihrer Nähe unter Umständen nicht wahr.

Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzt die Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen mit Behinderungen auf 12 Millionen Menschen

Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzt die Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen mit Behinderungen auf 12 Millionen Menschen. Im internationalen Asylrecht werden sie als besonders schutzbedürftige Gruppe betrachtet und müssen Vorrang haben. Dennoch ist das Exil für Menschen mit Behinderungen eine grosse Herausforderung, da ihre Einschränkungen – seien es körperliche, geistige oder auch sensorische – eine Flucht massiv erschweren oder gar verunmöglichen.

Bleiben ist oft einzige Option

Menschen mit Behinderungen werden daher häufig zurückgelassen. «In vielen Ländern ist das öffentliche Gesundheitssystem mangelhaft. So sind in der Ukraine – aber auch in anderen Konfliktgebieten – Menschen mit Behinderungen oft auf die Hilfe ihres Umfelds angewiesen. Wenn diese Unterstützer*innen das Land verlassen, sind die Menschen mit Behinderungen auf sich allein gestellt», sagt Laura Mills. «Ich habe mit Ukrainer*innen gesprochen, die es auf sich nahmen, bei ihren behinderten Angehörigen zu bleiben, oder die deren Evakuierung alleine stemmten.»

Die Mehrheit der Betroffenen hat oft keine andere Wahl, als in der eigenen Wohnung oder in sozialen Einrichtungen zu bleiben, die unter akutem Geldmangel leiden. «Es fehlt an Personal, auch aufgrund des Krieges. So bleiben Menschen in ihren Zimmern eingeschlossen und können monatelang nicht an die Sonne», sagt Laura Mills.

Diejenigen, denen es gelingt zu fliehen, finden sich oft in Lagern mit unzureichender Infrastruktur wieder. Eine 2022 von Handicap International veröffentlichte Studie zeigt, dass im Jemen 81 Prozent der Menschen mit Behinderungen keinen Zugang zu grundlegenden humanitären Dienstleistungen haben. Laura Mills kommt für die Ukraine zu demselben Ergebnis. «Die Lager für Binnenvertriebene, die wir besucht haben, sind nicht auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtet. Toiletten, Wasseroder Sammelstellen sind für Rollstuhlfahrer* innen unzugänglich. Und Informationen gibt es nicht in Braille- Schrift.»

«Menschen mit Behinderungen; viele von ihnen haben dadurch nicht den gleichen Zugang zu humanitärer Hilfe wie alle anderen.» Matthew Wells, Experte für Krisenreaktion bei Amnesty International

Auch in anderen Krisensituationen zeigen sich diese Versäumnisse, so nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar dieses Jahres: Laut einem Bericht von Amnesty International waren an 21 Orten die Sanitäreinrichtungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität unerreichbar. «Die Vorgaben für Standard-Notunterkünfte enthalten keine spezifischen Kriterien für Menschen mit Behinderungen; viele von ihnen haben dadurch nicht den gleichen Zugang zu humanitärer Hilfe wie alle anderen», sagt Matthew Wells von der Krisenreaktionsabteilung von Amnesty. Laut einer Umfrage von Handicap International sind mehr als 92 Prozent der Hilfskräfte vor Ort der Meinung, dass Menschen mit Behinderungen in Krisen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dies steht im Widerspruch zum internationalen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welches die Staaten dazu verpflichtet, «alle erforderlichen Massnahmen» zu ergreifen, um den Schutz von Menschen mit Behinderungen in Gefahrensituationen zu gewährleisten.

Unzureichende Strukturen

Die Schweiz nimmt seit 1950 Kontingente von kranken oder älteren Geflüchteten auf – darunter auch Menschen mit Behinderungen. Für den Zeitraum 2022/2023 hat der Bundesrat die Aufnahme von 1820 solcher Personen angekündigt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe erstellte zudem eine Liste mit Mindeststandards, die in den Bundesasylzentren (BAZ) für verletzliche Personen angewendet werden sollen. Sie fordert unter anderem eine spezielle Ausbildung des Personals, Zugang zu psychologischer Betreuung und eine angepasste Infrastruktur wie etwa Rollstuhlrampen oder Beschriftungen in vereinfachter Sprache für Menschen mit geistiger Behinderung.

Im Jahr 2022 rügte der Uno- Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Missstände in der Schweiz im Asylbereich.

Die Realität sieht jedoch offenbar anders aus. Im Jahr 2022 rügte der Uno- Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Missstände in der Schweiz im Asylbereich. Die Uno ist insbesondere der Ansicht, dass Asylsuchende mit Behinderungen in den BAZ Schwierigkeiten haben, Zugang zu spezialisierter medizinischer Versorgung, zu Infrastruktur und Ausrüstung und zu Kommunikationsmitteln zu erhalten. Es fehlt an angemessenen Vorkehrungen und an Unterstützung durch qualifiziertes Personal. Auch die kantonalen Wohnheime, die Menschen mit einer F- oder N-Bewilligung aufnehmen, sind nicht für Menschen mit Behinderungen, insbesondere körperlichen Behinderungen, ausgerüstet. «Es gibt nicht immer Aufzüge, die Gänge sind zu schmal und die Küchenzeilen zu niedrig für Rollstuhlfahrer* innen », sagt Irin1, eine Sozialarbeiterin, die es vorzieht, anonym zu bleiben. «Mit einem begrenzten Budget ist es äusserst kompliziert, eine geeignete Unterkunft in der Nähe von Gesundheitsdiensten zu finden.»

Finanzielle Behinderungen

Auch im Bildungsbereich gebe es viele Barrieren. «Je nach Art der Behinderung ist es fast unmöglich, eine neue Sprache zu lernen, und das Bildungssystem ist nicht entsprechend ausgerichtet. Einen Platz für ein behindertes Kind in einer Sonderschule zu bekommen, kann mehrere Monate dauern. Das wirkt sich auf die Eltern aus, die bis zur Einschulung warten müssen, um eine Betreuungsmöglichkeit zu erhalten», sagt Irin.

Diese finanziellen Aspekte verhindern oft ein selbstständiges Leben. Kaum eine geflüchtete Person kann die Invalidenversicherung (IV) in Anspruch nehmen, da in der Regel nachgewiesen werden muss, dass die Behinderung erst nach der Ankunft in der Schweiz aufgetreten ist. «Einem blinden Mädchen, das ich betreute, wurde die IV mit der Begründung verweigert, dass die Behinderung vor ihrer Ankunft aufgetreten sei. Sie wäre motiviert zu arbeiten, aber wegen des nicht angepassten Berufsbildungssystems und wegen der Sprachbarriere kann sie dies nicht. Sie ist erst 16 Jahre alt und wird ihr ganzes Leben lang von der Sozialhilfe abhängig bleiben», empört sich Irin.

Die Daten zu Behinderungen würden zudem häufig unterschätzt. «Viele ältere Menschen haben nicht anerkannte Behinderungen, die angesichts des Alters bagatellisiert werden, wie etwa Hörbehinderungen oder Demenz», sagt Laura Mills. «Dadurch entgehen ihnen oft notwendige Leistungen.»

Doch Initiativen versuchen, die Dinge in Bewegung zu bringen. Während das Staatssekretariat für Migration einen Leitfaden für Geflüchtete «mit besonderen Bedürfnissen» erstellt, will die im April gestartete Inklusions-Initiative die Stellung aller Menschen mit Behinderungen in der Schweiz verbessern.