Familie Bondar ist dankbar für die Arbeit von Diana Jurna, die das Zentrum in Chisinau mit aufgebaut hat. © Tigran Petrosyan
Familie Bondar ist dankbar für die Arbeit von Diana Jurna, die das Zentrum in Chisinau mit aufgebaut hat. © Tigran Petrosyan

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023: Moldau Vorübergehender Schutz im Nachbarland

Von Tigran Petrosyan. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Der kleine Staat Moldau hat im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung mehr ukrainische Geflüchtete aufgenommen als jeder andere Staat Europas. Zu Besuch in einer Unterkunft für Geflüchtete.

Zwischen gestapelten Kartons mit Sonnenblumenöl, Reis und Babybrei und einem Berg von in Plastik verpacktem Toilettenpapier serviert Proskovii Bondar am einzigen Tisch im Raum das Mittagessen. Sie ruft die Kinder vom Hochbett herunter. Überall stehen Doppelstockbetten nebeneinander. Auf einem glotzen zwei Brüder auf ein Smartphone, auf einem anderen versteckt ein Mädchen seine Puppe und zögert, herunterzukommen. Währenddessen packt Larisa Bondar, Proskoviis Tochter, in Eile Hilfsgüter für ukrainische Geflüchtete in kleine Tüten. 400 sind schon fertig. Drei der Stockbetten biegen sich unter der Last. Die Tüten werden bald abgeholt. Einige Betten bleiben jedoch leer. Frisch bezogen warten sie auf jene, die vor Bombenangriffen in der Ukraine nach Chișinău fliehen.

Mehr als 937 000 Ukrainer*innen kamen bisher nach Moldau, die meisten von ihnen reisten weiter, rund 104 000 aber sind geblieben. Damit hat die postsowjetische Republik, die zwischen Rumänien und der Ukraine liegt, im Verhältnis zu ihren 2,6 Millionen Bürger* innen mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen als jedes andere Land in Europa.

Seit August 2022 wohnt Larisa Bondar mit ihren Kindern in einer Unterkunft in Chișinău. Die lokale Nichtregierungsorganisation Nationalkongress der Ukrainer der Republik Moldau (NKRM) hat am Rande der Stadt im Untergeschoss eines 16-stöckigen Neubaus Ladenflächen gemietet und daraus Wohneinheiten gemacht. Dort können rund 50 Personen gleichzeitig untergebracht werden, die meisten bleiben nur eine Nacht.

Diana Journa (rechts) kümmert sich um die geflüchteten Mütter und ihre Kinder. © Tigran Petrosyan

Oft kommt nachts ein Bus mit Frauen und Kindern aus der ukrainischen Stadt Mykolajiw in Chișinău an und fährt am nächsten Morgen weiter nach Deutschland oder Österreich. Unter den Weiterreisenden wird auch die Frau sein, die momentan noch mit Heftern und Mappen in der Hand vor der Aussentür wartet, um ihre Unterlagen den moldauischen Behörden zu zeigen. Und auch die junge Mutter, die mit ihrem zehn Monate alten Baby erst vor drei Tagen Kiew verlassen hat, wird nicht bleiben.

Etwa 6000 Menschen nutzten bislang die Unterkünfte des NKRM. Zu den wenigen, die länger bleiben, zählt die Familie Bondar. Die Arbeit im Zentrum geht auch dank der helfenden Hände von Larisa und Proskovii zügig voran. Viel Arbeit lastet auf ihren Schultern – Logistik, Anmeldungen, Behördenbriefe, Zwischenfälle mit Betrunkenen... Bald soll auch Larisas Mann kommen. Der georgische Staatsbürger verlängert gerade seinen Pass in Tiflis.

Die Suche nach einer besseren Zukunft führte Larisa und ihre Familie zunächst nach Deutschland. Doch wurde der 33-Jährigen schnell klar, dass die Realität dort weniger rosig war, als sie es sich erträumt hatte. Erst mussten sie in einem Zelt an der Strasse schlafen, dann landeten sie in einem Flüchtlingsheim, das Larisa als «überfüllt und dreckig» bezeichnet. Sie schafften es bis ins hessische Limburg, wo sie nur ein einziges Wort lernten: «Warten». Die Republik Moldau, das ärmste Land Europas, mit einer Inflation von mehr als 40 Prozent, bot den Bondars mehr Chancen. «Hier fühlt man sich wenigstens als Mensch», sagt Larisa Bondar.

Doch gibt es auch praktische Gründe, hier zu bleiben. «Es gibt keine Sprachbarrieren. Wir können uns auf Russisch verständigen », sagt Larisa Bondar. Vor Februar 2022 waren Ukrainer*innen die zweitgrösste ethnische Minderheit in Moldau, nach Rumän*innen, aber noch vor Russ*innen. Vielen Geflüchteten ist die Nähe Moldaus zur Ukraine wichtig. So können sie leichter zu Verwandten reisen, wenn sie wollen. Die meisten warten darauf, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort die Waffen schweigen.

Angst vor Russland

Moldau gilt als sicher, doch die Situation könnte sich bald ändern. Russland droht permanent damit, alte Konflikte mit Moldau neu anzuheizen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und einem kurzen Krieg im Frühjahr und Sommer 1992 entstand im Osten des Landes, an der Grenze zur Ukraine, die selbsternannte Republik Transnistrien. Sie erklärte sich von Moldau unabhängig, ist aber bis heute nicht international anerkannt. Russland gilt als Schutzmacht.

Aber auch in Moldau gibt es immer noch Tausende Menschen, die prorussisch gesinnt sind und für Russland auf die Strasse gehen. Es gibt prorussische Parteien im Parlament, die von Moskau finanziert werden, und es gibt eine Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört. Russland plane einen Putsch in Moldau, warnte im Februar die moldauische Präsidentin Maia Sandu. Larisa und ihre Mutter wachen seither jeden Tag mit der Angst vor einem Überfall Russlands auf.

Die Familie Bondar kommt aus dem Dorf Stari Trojany in der Nähe von Odessa. Vier Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus nach Odessa. Proskovii Bondar wird diese Fahrt bald wieder antreten. Ihr Mann und die Familie ihrer ältesten Tochter leben in der Hafenstadt, und sie arbeitet dort als Schneiderin. Larisa hat in Chișinău Arbeit gefunden. Sie putzt regelmässig in einem Tanzstudio. Ihr Gehalt beträgt weniger als die Hälfte des moldauischen Mindestlohns, hilft aber weiter, wenn das Unterstützungsgeld des Uno-Flüchtlingskommissariats wieder einmal ausbleibt, weil zuerst Nachweise erbracht werden müssen. 2200 moldauische Lei, rund 110 Euro, zahlt das UNHCR pro Monat allen Ukrainer*innen, die nachweisen können, dass sie sich tatsächlich in der Republik Moldau aufhalten.

Sich um solche Nachweise zu kümmern, gehört zum Alltag von Diana Jurna. Sie arbeitet für die NKRM, ihr Büro liegt direkt neben den Flüchtlingsunterkünften. Die 32-jährige Grafikdesignerin hat das Zentrum in Chișinău mit aufgebaut. Lange hat sie die Regierung kritisiert, weil diese ukrainischen Geflüchteten keine Bleibeperspektive bot. Seit Beginn des Krieges verlängerte das Parlament die Aufenthaltsbewilligung für Ukrainer*innen immer nur um 180 Tage. Seit dem 1. März ist das anders. Geflüchteten aus der Ukraine wird nun für die Dauer eines Jahres vorübergehender Schutz gewährt. Sie haben damit Zugang zu medizinischer Versorgung und bestimmten Bildungsangeboten und dürfen arbeiten.

In einer Kiste sucht sie für ein Kind in der Unterkunft nach einem Schnuller. Eine Mitarbeiterin bringt Bettwäsche und Handtücher aus der Wäscherei, frisch gewaschen und gebügelt. Larisa wird sie später verteilen. Vor dem Büro drängen sich viele Menschen, einige mit Fragebögen in der Hand, andere wirken nach ihrer Flucht verwirrt oder traurig. Auf Diana Jurna wartet noch viel Arbeit.