© trigon-film.org
© trigon-film.org

MAGAZIN AMNESTY Kultur_Film Die vier Töchter und der böse Wolf

Von Boris Bögli. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2023.
Die Tragödie einer tunesischen Familie: Mit dem Experimentalfilm «Les Filles d’Olfa» hat die Regisseurin Kaouther Ben Hania ein aussergewöhnliches Werk geschaffen.

Olfa hat zwei Töchter. Einst waren es vier, doch die beiden älteren sind verschwunden. «Sie hat der Wolf gefressen », sagt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania zu Beginn ihres Films. Was das Verschwinden von Rahma und Ghofrane mit der Familie gemacht hat, steht im Mittelpunkt ihres Films «Les Filles d’Olfa». Sie lässt sechs Protagonistinnen auftreten: Mutter Olfa sowie die jüngeren Töchter Eya und Tayssir spielen sich selbst. Hend Sabri doubelt Olfa in schwierigen Szenen, Nour Karoui und Ichraq Matar stellen die verschwundenen Schwestern dar.

Gespräche mit den reellen Familienmitgliedern werden in dem Film mit nachgespielten Szenen aus ihrem Leben verwoben. Dazwischen tritt die Regisseurin selbst auf. Auch auf Kameramann Farouk Laaridh, der ebenso intime wie präzise Bilder komponiert hat, wird Bezug genommen.

Olfa erzählt aus ihrer katastrophalen ersten Ehe. Aus der Zeit des kurzen Glücks mit einem neuen Partner, der sich aber als Dreckskerl mit Drogenproblem entpuppt. Eya und Tayssir lassen ihre von Armut und Gewalt geprägte Kindheit Revue passieren, die schwierige Beziehung zur Mutter, die ihre Töchter moralinsauer vor dem Frauwerden bewahren will. Als sie in Rahmas Tagebuch den Namen eines Jungen «mit Augen blau wie der Sommerhimmel» entdeckt, setzt es Schläge ab – und es zeigt sich, dass dies kein «Ausrutscher» ist.

Mit dem Arabischen Frühling, der ab 2011 neue Freiheiten und Umwälzungen bringt, gehen die Familienmitglieder unterschiedlich um. Rahma beginnt sich im Gothic-Stil schwarz zu schminken, Ghofrane enthaart ihre Beine und zieht mit einem Motorradfahrer um die Häuser. Derweil missionieren Islamisten auf den Plätzen und schwatzen den Frauen im Quartier den Niqab (Gesichtsschleier) auf. Rahma und Ghofrane beginnen, sich von ihrer Mutter zu entfremden.

Es wird viel geweint in «Les Filles d’Olfa». Aber es wird auch gelacht, gesungen und getanzt. Wenn die vier Schwestern herumalbern, ist plötzlich unklar, ob es sich um eine nachgespielte Szene oder eine «Drehpause» handelt – derart vermischt Ben Hania Fiktion und Realität. Eingefangen wurden diese Bilder hinter einem diskreten Zweiweg- («Verhörraum »-) Spiegel. Einen normalen Spiegel – in der Person von «Double» Sabri – hält die Regisseurin der Mutter hin, die sich ihrer Erziehungs-Verfehlungen schmerzhaft bewusst wird.

«Deine verbliebenen Töchter sind die Generation, die den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen wird», sagt Sabri zu Olfa. Die erfrischenden Charaktere von Eya und Tayssir sind denn auch das Hoffnungsvollste in einer Familiengeschichte voller Traumata und Tragik. Diese beiden Töchter sind nicht «vom Wolf gefressen » worden. Wer mit dem Wolf gemeint ist, wird allerdings erst zum Schluss des Films aufgedeckt.