Das Recht auf Gesundheit ist völkerrechtlich verankert. Was heisst das genau und wer ist für den Schutz dieses Rechts verantwortlich? Welche Ansprüche leiten sich für das Individuum daraus ab?
Prof. Dr. Michael Krennerich, Wissenschaftlicher Leiter des Center for Human Rights der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg:
«Die Grundidee des Menschenrechts auf Gesundheit ist, dass der Staat – als vorrangiger Träger menschenrechtlicher Pflichten – die Gesundheit der Menschen nicht beeinträchtigt, diese vor Eingriffen schützt und Massnahmen für gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen ergreift. Vor allem sollen die Menschen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben, die diskriminierungsfrei und erschwinglich ist. Inwieweit sich ein solcher Zugang nicht nur politisch einfordern, sondern auch juristisch einklagen lässt, hängt indes stark vom nationalen Rechtssystem ab.»
Daniela Varga, Gesundheitsexpertin bei Amnesty Schweiz:
«Das Recht auf Gesundheit begründet keinen Anspruch auf Gesundsein, denn das könnte kein Staat garantieren. Die Staaten haben aber Unterlassungs-, Schutz- und Leistungspflichten; so sind sie verpflichtet, Gesundheitsschädigungen zu unterlassen − dazu gehören auch die Verschmutzung und die Zerstörung der Umwelt. Und sie müssen Menschen vor Schädigungen durch Dritte – Unternehmen wie Privatpersonen – schützen. Das Recht auf Gesundheit verbietet ausserdem medizinische Experimente, Zwangsdiagnosen oder Zwangstherapien. Staaten dürfen den Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen nicht verhindern und Gesundheitsinfrastrukturen nicht zerstören. Und natürlich muss eine umfassende Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden. Dazu gehört auch der Zugang zu Informationen, damit die Menschen die Möglichkeit haben, informierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen.» Es sind also in erster Linie die Staaten, die in der Pflicht sind. Gerade im globalen Süden kann diese Aufgabe jedoch oft nicht wahrgenommen werden.
Wo sehen Sie die Hauptherausforderungen?
Mtafu Chirwa, Klinikdirektor und Gesundheitsexperte für Reproduktionsmedizin, Malawi:
«Die Grenzen des Rechts auf Gesundheit liegen vor allem beim Zugang zu Gesundheitsdiensten und bei der ungerechten Verteilung. Dazu kommt der Mangel an gut ausgebildetem Gesundheitspersonal und medizinischem Material. Die schlechte Infrastruktur und die unzureichende Ausrüstung sind vor allem im globalen Süden grosse Herausforderungen. So ist es in Malawi beispielsweise wichtig, dass Malariakranke zur nächsten Gesundheitsstation nicht zu weit gehen müssen, dort dann auch getestet werden können und die passende Behandlung erhalten. Während der Covid-Pandemie dauerte es unglaublich lange, bis Impfstoffe in den Ländern des Südens ankamen. Wenn die reichen Länder schneller handeln und rascher nötige medizinische Mittel liefern würden, könnten viel mehr Menschen ihr Recht auf Gesundheit wahrnehmen.»
Monika Christofori-Khadka, Gesundheitsexpertin beim Schweizerischen Roten Kreuz:
«Besonders einschneidend eingeschränkt sind in vielen Ländern – nicht nur im globalen Süden – die Rechte betreffend die sexuelle und reproduktive Gesundheit. In konservativ geprägten Ländern wurden diese Rechte in den vergangenen Jahren eher beschnitten als erweitert. Dies betrifft vor allem die Familienplanung, Schwangerschaftsabbrüche und die Rechte von LGBTI*-Personen.»
Wo sind die Hauptdefizite in der Schweiz angesiedelt?
Monika Christofori-Khadka:
«Bei uns ist weniger die Infrastruktur oder das Geld massgebend, Ungleichheiten sind aber gleichermassen eine Herausforderung. So haben Sans-Papiers das Recht auf eine Behandlung in einem gesundheitlichen Notfall, ein Recht auf Anschlussbehandlungen innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems besteht aber nicht. Und Menschen mit Behinderungen müssen teilweise hohe administrative Hürden überwinden, damit Gesundheitskosten übernommen werden. Gerade für Migrant*innen ist es oft schwer, sich im System zurechtzufinden und ihr Recht auf Gesundheit geltend zu machen. Kantonale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung verstärken Ungleichheiten.»
Die Schweiz ist verschiedenen wesentlichen Fakultativprotokollen und weiteren Abkommen der Uno, die das Recht auf Gesundheit konkretisieren, nicht beigetreten. Was bedeutet das?
Daniela Varga:
«Die Schweiz sieht in den meisten sozialen Menschenrechten – so auch im Recht auf Gesundheit – rein programmatische Ziele und verhindert damit die Möglichkeit einer Individualbeschwerde; Einzelpersonen können Verletzungen des Rechts auf Gesundheit also nicht direkt einklagen. Die Schweiz erfüllt das Recht auf Gesundheit, wie es in diesen Abkommen festgeschrieben ist, somit in vielen Bereichen nur ungenügend. Beispielsweise ist der Zugang zu Dienstleistungen im Bereich der psychischen Gesundheit sehr eingegrenzt, und Betroffene erhalten häufig keine passende Behandlung.» Global betrachtet hat die Weltgesundheit in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht, wie die WHO festhält. Die Kinder- und Müttersterblichkeit geht zurück, ebenso die Zahl der Menschen, die an ansteckenden Krankheiten sterben. Sind die Expert*innen optimistisch oder zumindest hoffnungsvoll?
Mtafu Chirwa:
«Die globale Gesundheit hat sich im Laufe der Jahre in vielen Bereichen erheblich verbessert – auch in Malawi. So ist die Säuglingssterblichkeit zurückgegangen. Aber Malawi hat weiterhin eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten weltweit. Die schwindende finanzielle Unterstützung des Landes für den Gesundheitssektor verschärft die Situation. Insgesamt nimmt im globalen Süden die Krankheitslast für die Bevölkerung aber eher zu. Immer mehr Menschen sterben an nicht übertragbaren Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus usw. Die Information und Prävention wie auch eine richtige und ausreichende Behandlung fehlen.»
Michael Krennerich:
«Trotz der Fortschritte ist es nach wie vor ein untragbarer Zustand, wie viele Menschen weltweit unter gesundheitsschädlichen Bedingungen leben und arbeiten und wie viele an vermeidbaren und heilbaren Krankheiten sterben, weil sie keinen angemessenen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben oder sich diese nicht leisten können. Da fällt es mir schwer, optimistisch zu sein.»
Was ist zu tun, damit mehr Menschen in den Genuss ihres Rechts auf Gesundheit kommen?
Monika Christofori-Khadka:
«Die Wissenschaft macht grosse Fortschritte, und der Zugang zu Gesundheitsdiensten und Medikamenten ist um vieles besser geworden, nur leider nicht für alle Menschen. Und wenn wir nicht genügend Gesundheitsfachkräfte haben, wird niemand die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Fortschritte zur Anwendung bringen. Wertschätzung, gerechte Arbeitsbedingungen und eine faire Entlöhnung sind wichtig, damit auch in abgelegenen Gebieten eine gute Gesundheitsversorgung erfolgen kann und die Fortschritte nicht rückgängig gemacht werden. Trotz digitaler Entwicklungen und künstlicher Intelligenz ist und bleibt das Gesundheitspersonal zentral. Wir wüssten ja eigentlich, wo und wie die Weltgesundheit verbessert werden kann. Bestehende Ungleichheiten nachhaltig anzugehen, verlangt viel Kreativität, Engagement und auch eine Entwicklung weg von der ‹persönlichen Gesundheit› hin zur globalen Gesundheit.»
Michael Krennerich:
«Eine umfassende, hochwertige Gesundheitsversorgung ist zwar teuer. Doch kann Ressourcenmangel nicht als Entschuldigung dafür dienen, untätig zu bleiben. Hier gilt es Prioritäten zu setzen und auf Grundlage der verfügbaren und mobilisierbaren Ressourcen wirksame Massnahmen zu ergreifen, um das Recht auf Gesundheit für alle so gut wie möglich umzusetzen.»
Das Recht auf Gesundheit im Völkerrecht
Bereits 1948 wurde in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard einschliesslich ärztlicher Versorgung sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Krankheit und Invalidität festgehalten. Expliziter geht der internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte von 1966 (Uno-Sozialpakt) auf die Gesundheitsrechte ein: Artikel 12 anerkennt das Recht eines jeden Menschen auf körperliche und geistige Gesundheit. Die Schweiz ist dem Pakt 1992 beigetreten. Das Zusatzprotokoll vom 10. 12. 2008 enthält eine weitgehendere Stärkung des Menschenrechtsschutzes: Einzelpersonen oder Personengruppen, die ihre Rechte verletzt sehen, haben die Möglichkeit der Individualbeschwerde vor dem Fachausschuss der Vereinten Nationen. 46 Uno-Mitgliedsstaaten haben das Protokoll unterzeichnet. 27 haben es ratifiziert. Die Schweiz hat das Protokoll nicht unterschrieben.
In weiteren Uno-Konventionen wie der Antirassismus-Konvention, der Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau, der Kinderrechtskonvention oder der Behindertenrechtskonvention wird das Recht auf Gesundheit der Betroffenen ebenfalls bekräftigt und auch konkretisiert, indem Massnahmen zum Erlangen des Rechts postuliert werden. Auch regionale Menschenrechtsabkommen enthalten das Recht auf Gesundheit.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO postuliert in der Präambel ihrer Verfassung ein grundlegendes Recht eines jeden Menschen auf «einen höchstmöglichen Standard an Gesundheit». Gesundheit definiert die WHO als «einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens» und nicht nur als «das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen». Von einigen Expert*innen wird dies als zu umfassend kritisiert, da der Begriff «Wohlergehen» (wellbeing) interpretierbar sei.