Weitere Bilder in der Galerie mit Fotos von Théophile Simon
Seit einunddreissig Jahren fährt Dr. Jose Ulysse jeden Morgen von seinem Haus im Zentrum von Port-au-Prince zum Krankenhaus Fontaine in der Cité Soleil, einem heruntergekommenen Viertel der haitianischen Hauptstadt. Nachdem er sich mit seinem Auto einen Weg durch die verwinkelten Gassen des Stadtzentrums gebahnt hat, gelangt er schliesslich in eine Gegend, in der sich Kühe und Ziegen die Strasse mit den Fahrzeugen teilen. Eigentlich ist dies eine ganz normale Strecke, doch Jose Ulysse fährt seit einigen Monaten in einem gepanzerten Auto. «Ich muss die Frontlinie zwischen zwei bewaffneten Gangs überqueren. Querschläger von Kugeln sind da keine Seltenheit», erzählt der Arzt. «Eine solche Situation habe ich nie zuvor erlebt. Kriminalität ist in diesem Land nichts Neues, aber die Lage ist mittlerweile ausser Kontrolle.»
Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 hat sich die «Perle der Antillen» in ein regelrechtes Kriegsgebiet verwandelt. Unter Ausnutzung des politischen Vakuums und der grassierenden Korruption haben über hundert Banden die Kontrolle über ganze Landstriche übernommen. Besonders schlimm ist die Lage in Port-au-Prince, wo 80 Prozent des Stadtgebiets nicht mehr unter staatlicher Kontrolle stehen sollen. Jeden Tag fallen dort Schüsse, Strasse um Strasse dehnen die Gangs ihre Macht aus. Mitte August war das Viertel Carrefour-Feuilles das Ziel eines Angriffs einer bewaffneten Gruppe. Die Bilanz: Mindestens 20 Tote, doppelt so viele Verletzte und 10 000 Menschen, die aus ihren Häusern fliehen mussten. Einige Tage später stürmte eine weitere Bande das Solino-Viertel im Stadtzentrum, verletzte zwei Polizisten schwer und setzte mehrere Häuser in Brand. Nach einer Zählung der Vereinten Nationen hat der Gewaltausbruch seit Anfang 2023 rund 2400 Tote und 900 Verletzte gefordert. Fast 1,5 Millionen Haitianer*innen leben heute in einem von einer Bande kontrollierten Gebiet.
«Vor zwei Jahren hatten wir täglich zwischen fünf und zehn Fälle von Unterernährung, heute sind es fast vierzig.» Dr. Jose Ulysse
Hunger und Cholera
«Die Todesfälle durch Schüsse sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Sicherheitslage hat auch schreckliche Auswirkungen auf die Gesundheit», sagt Jose Ulysse, als er vor seinem Krankenhaus parkiert. Eine lange Schlange von Patient*innen wartet vor dem Gebäude. Der Arzt betritt einen Raum, der mit Kleinkindern und ihren Eltern gefüllt ist. Die Säuglinge haben ausgemergelte Gesichter und braune Flecken auf der Haut. «Alle diese Kinder sind stark unterernährt. Sie werden mehrere Wochen hierbleiben müssen », sagt der Arzt und tastet nach dem Knöchel eines Babys. «Vor zwei Jahren hatten wir täglich zwischen fünf und zehn Fälle von Unterernährung, heute sind es fast vierzig. Es fehlen die Mittel, um sie alle zu behandeln.»
Die 29-jährige Suze Palvilis sitzt auf einem provisorischen Bett und wiegt ihr Baby. Das Kind ist 11 Monate alt und kaut auf einer energiereichen Paste aus Erdnüssen und Honig. «Ich verkaufe Obst und Gemüse. Seit die Banden die Kontrolle über das Viertel übernommen haben, ist der Handel zusammengebrochen. Ich habe kein Geld mehr, um meine Kinder zu ernähren», sagt sie.
In den engen, staubigen Strassen der Cité Soleil erfasst der Sozialarbeiter François Lucanes die unterernährten Kinder und verweist die Familien ans Fontaine-Krankenhaus. «Oft sind die Kinder nach der Behandlung sofort wieder unterernährt, da die finanziellen Schwierigkeiten der Eltern fortbestehen. Bei Kindern kann das zu erheblichen Wachstumsverzögerungen führen», sagt er und misst mit einem Plastikband den Armumfang eines zweijährigen Babys. Das Ergebnis: Es leidet an akuter Unterernährung. Seine Mutter, die 28-jährige Pascale Roselyne, sagt: «Ich schaffe es nicht, ihn selbst zu ernähren. Wenn ich will, dass er überlebt, muss ich ihn in fremde Obhut geben.» Fast zwei Millionen Haitianer*innen leiden an fortgeschrittener Unterernährung, der letzten Phase vor dem Hungertod. Das ist ein Anstieg um 30 Prozent im Vergleich zum Jahr 2022. Haiti hat die zweithöchste Unterernährungsrate der Welt, gleich nach dem Südsudan.
Seit Beginn dieses Jahres ist nun auch noch die Cholera zurückgekehrt.
Seit Beginn dieses Jahres ist nun auch noch die Cholera in die Cité Soleil zurückgekehrt. Nach dem katastrophalen Erdbeben, das Haiti im Jahr 2010 ereilte, wurde die Krankheit von Blauhelmen der Vereinten Nationen ins Land eingeschleppt; in den folgenden zehn Jahren konnte man die Krankheit ausmerzen. Doch nun tauchte sie wieder auf, nachdem eine Bande Ende 2022 ein Hafenterminal in der Hauptstadt blockierte, was zu einer Verknappung von Wasser und Treibstoff führte.
Seither wurden landesweit mehr als 50 000 Fälle von Cholera registriert, mindestens 745 Menschen starben daran. «Die Gemeindedienste können wegen der Banden den Müll nicht einsammeln. Wenn es regnet, waten wir in einem Meer aus Abfall», erzählt Vielgita Colas im Krankenhaus. Auf ihren Knien liegt ihre 18 Monate alte Tochter Neisa, die an einer Infusion hängt. «Sie hat sich vor ein paar Tagen Cholera zugezogen. Ich dachte, sie würde sterben», sagt Vielgita und streichelt dem Mädchen zärtlich übers Gesicht.
Internationale Hilfe notwendig
Langsam, aber sicher kollabiert das haitianische Gesundheitssystem. Wegen der Angriffe von Banden schliessen Krankenhäuser ihre Türen. Anfang Juli musste Médecins sans Frontières eines seiner Gesundheitszentren schliessen, nachdem bewaffnete Männer in das Gelände eingedrungen waren, um eines ihrer Opfer zu töten, das sich wegen Schussverletzungen in der Klinik aufhielt.
Haiti ist zudem mit einem dramatischen Wissensverlust konfrontiert. Zu Tausenden wandert medizinisches Fachpersonal aus, oft in die Vereinigten Staaten. Heute gibt es in Haiti weniger als 25 Gesundheitsangestellte pro 100'000 Einwohner – das sind fast acht Mal weniger als in der Schweiz.
Angesichts dieser Notlage rief die haitianische Regierung die internationale Gemeinschaft zu einer bewaffneten Intervention im Land auf, um ihr bei der Wiederherstellung der Ordnung zu helfen. Mitte August sprach sich die Uno dafür aus, der Sicherheitsrat wird sich voraussichtlich in den kommenden Wochen äussern. Auch wenn ein solches Szenario die haitianische Gesellschaft weiter spalten würde, ist eines sicher: Im Gesundheitsbereich braucht das Land dringend Hilfe.