Die schlimmsten Befürchtungen sind nicht wahr geworden: Es starben auf dem afrikanischen Kontinent weit weniger Menschen an Covid-19, als zu Beginn der Pandemie befürchtet worden war. Doch hatte die Konzentration auf Covid- 19 in vielen der über 50 Länder des Kontinents massive Nebenwirkungen: Die Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten, Präventions- und Aufklärungsprogramme, Laborkapazitäten sowie die Basisgesundheitsversorgung wurden zurückgefahren. Viele Patient*innen mieden Kliniken und Krankenhäuser aus Angst vor einer Ansteckung. Andere konnten sie nicht erreichen, weil der öffentliche Verkehr eingeschränkt war.
«Wir können nicht alles stehen und liegen lassen, wenn eine neue Epidemie oder Pandemie beginnt. Es hat Konsequenzen, wenn wir Massnahmen im Kampf gegen HIV oder Tuberkulose einfach auf Eis legen.» Quarraisha Abdool Karim; HIV-Expertin
Diese Situation sei ein «Weckruf» gewesen, betont Quarraisha Abdool Karim. Die Südafrikanerin zählt zu den weltweit führenden HIV-Wissenschaftler*innen und sitzt im Lenkungsausschuss von Unaids, dem Programm der Vereinten Nationen gegen Aids/HIV. Auf dem afrikanischen Kontinent gehört Aids noch immer zu den häufigsten Todesursachen, mit mehr als 385 000 Toten im Jahr 2022. In Südafrika leben die weltweit meisten HIV-Infizierten – knapp acht Millionen Menschen. Eine Lehre aus Corona sei eindeutig, sagt Abdool Karim: «Wir können nicht alles stehen und liegen lassen, wenn eine neue Epidemie oder Pandemie beginnt. Es hat Konsequenzen, wenn wir Massnahmen im Kampf gegen HIV oder Tuberkulose einfach auf Eis legen.»
So wie überall auf dem Kontinent hatte auch die südafrikanische Regierung als erste Massnahme einen Lockdown verhängt, um die chronisch überlasteten Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu bewahren. Gesundheitsdienste wurden eingeschränkt oder vorübergehend eingestellt. Deutlich weniger Südafrikaner*innen machten in der Zeit einen HIV-Test, deutlich weniger begannen die Behandlung mit Medikamenten. Afrikaweit ging die Zahl der HIV-Tests der Statistik des Global Fund zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose zufolge im Jahr 2021 im Vergleich zu 2019 um rund 40 Prozent zurück. Dies war ein Rückschlag, denn um die Zahl der Neuinfektionen zu verringern, ist es entscheidend, dass Menschen ihren Status kennen und die Viruslast durch Medikamente reduziert wird. Mittlerweile habe die Zahl der Tests und neuen Behandlungen wieder zugenommen, wenn auch langsam.
In anderen Ländern wie dem ostafrikanischen Ruanda waren die HIV-Programme schon bald wieder auf Kurs. «Das ist vor allem der Zusammenarbeit mit unserem starken zivilgesellschaftlichen Netzwerk zu verdanken», sagt Eric Remera. Der Arzt leitet die HIV-Abteilung des Rwanda Biomedical Centre, einer Behörde, die die Pläne des Gesundheitsministeriums in die Praxis umsetzt. Sogenannte Peer Educators stehen in engem Kontakt mit Patient*innen und Risikogruppen. Sie verteilten während der Pandemie beispielsweise HIV-Selbsttests und richteten eine Hotline für Fragen aus der Bevölkerung ein.
Ein ähnliches System hat sich auch im Hinblick auf andere Infektionskrankheiten wie Malaria bewährt. Wie in vielen afrikanischen Ländern sind in Ruanda Gesundheitshelfer*innen, sogenannte Community Health Worker, in ihren Dörfern die ersten Ansprechpartner*innen für Gesundheitsfragen. Während des Lockdowns konnten sie sich frei bewegen, verteilten Moskitonetze direkt an die Haushalte, führten Tests durch und sorgten dafür, dass Patient*innen zügig behandelt wurden. Dass die Covid-Pandemie die Bekämpfung von Malaria, HIV und Tuberkulose dauerhaft beeinträchtigte, konnte so verhindert werden – jedenfalls in Ruanda.
Kinderkrankheiten breiten sich aus
In vielen afrikanischen Staaten hatte die Fokussierung auf Covid-19 gravierende Auswirkungen für Frauen und Kinder. Programme für Familienplanung wurden unterbrochen, die Zahl sicherer Entbindungen in Kliniken sank, die Vor- und Nachsorge für Schwangere und Neugeborene war ebenso eingeschränkt wie intensivmedizinische Behandlungen. Impfkampagnen für Kinder unter fünf Jahren wurden unterbrochen – mit schweren Folgen.
Millionen Kleinkinder haben keine Grundimmunisierung gegen Krankheiten wie Polio, Gelbfieber, Meningitis, Diphterie oder Masern erhalten.
Millionen Kleinkinder haben keine Grundimmunisierung gegen Krankheiten wie Polio, Gelbfieber, Meningitis, Diphterie oder Masern erhalten. Diese Krankheiten brechen nun wieder vermehrt aus. So lag die Zahl der Masernfälle im ersten Quartal 2022 um ganze 400 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Ausbrüche seien in 20 afrikanischen Ländern registriert worden, sagt die WHO-Regionaldirektorin für Afrika, Matshidiso Moeti. In der gesamten Region seien daraufhin Kampagnen gestartet worden, die inzwischen auch Wirkung zeigten: «Wir haben nicht nur aufgeholt, sondern hatten im Jahr 2022 sogar höhere Impfraten als vor der Pandemie», bilanziert Moeti.
Eines der von einem Masernausbruch betroffenen Länder ist das westafrikanische Liberia. Die Gesundheitsministerin, Wilhemina Jallah, führte das bei einer Pressekonferenz unter anderem auf «Impfmythen» zurück. «Überall hatten die Leute Angst, dass sie durch die Impfung mit Covid-19 infiziert würden, und brachten auch ihre Kinder nicht mehr in die Klinken.» Aufklärungskampagnen in den Gemeinden hatten Erfolg, jedoch erst spät. Viele Kinder hätten die Masernimpfung verpasst, und so sei es zu Ausbrüchen in mehreren Landesteilen gekommen. Mittlerweile scheinen die Impfbedenken ausgeräumt. Liberia zählt zu den afrikanischen Ländern mit der höchsten Covid-Impfquote.
Die Pandemie brachte auch Erfolge
Erfolge wie dieser verdienen laut Matshidiso Moeti mehr Beachtung: «Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf die negativen Auswirkungen der Pandemie. Dabei haben wir viel gelernt, neue Kapazitäten aufgebaut und die Reichweite unserer Gesundheitsdienste vergrössert.» So seien etwa die Intensivbettenkapazitäten erweitert und die Mechanismen für den Umgang mit künftigen Gesundheitsnotständen gestärkt worden. Um die Länder der Region besser auf künftige Pandemien vorzubereiten, brauche es Zugang zu integrierten Gesundheitsdiensten, eine solide Datenlage, Impfstoffe und, nicht zuletzt, die Mitarbeit der Bevölkerung. Moeti hebt die Bedeutung von Communitys und zivilgesellschaftlichen Organisationen hervor. Sie hätten während der Pandemie eine zentrale Rolle gespielt und könnten auch künftig dabei helfen, den Zugang zu Gesundheitsdiensten zu verbessern.
Die Communities hätten während der Pandemie eine zentrale Rolle gespielt und könnten auch künftig dabei helfen, den Zugang zu Gesundheitsdiensten zu verbessern.
Dieser Zugang müsse nicht nur vorhanden, sondern auch gerecht und inklusiv sein, betont die südafrikanische HIVForscherin Quarraisha Abdool Karim. Information, Prävention, Behandlung müssten allen offenstehen, ohne Ausgrenzung, Diskriminierung oder Stigmatisierung. Das ist auch als Seitenhieb auf die ungleiche globale Impfstoffverteilung während der Covid-Pandemie zu verstehen.
Zurzeit gibt vor allem die steigende Anzahl von Choleraausbrüchen in vierzehn afrikanischen Ländern Anlass zur Sorge. Von Januar 2022 bis Mitte Juli dieses Jahres wurden 213 443 Cholerafälle gemeldet und 3951 Tote. «Die zunehmende Zahl der Länder, in denen Cholera ausbricht, setzt die weltweit begrenzten Impfstoffvorräte immens unter Druck», sagt Matshidiso Moeti. Auch vor diesem Hintergrund unterstützt Moeti den Aus- und Aufbau der Impfstoffproduktion auf dem afrikanischen Kontinent. Damit die nächste Pandemie weniger Nebenwirkungen mit sich bringt.