© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin September 2023: Brennpunkt Wo bleibt die Menschlichkeit?

Von Alicia Giraudel. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2023.

In den Sommerferien habe ich bewusst darauf verzichtet, Medienberichte zu lesen. Meinem geistigen Wohlbefinden zuliebe brauche ich manchmal ein paar Tage Abstand von den Schreckensmeldungen, mit denen wir bei Amnesty International tagtäglich konfrontiert sind.

Doch als ich nach den Ferien die Zeitung aufschlug und die Geschichte von Fati Dosso und ihrer sechsjährigen Tochter Marie las, überkam mich tiefe Trauer. Das Bild der beiden hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke, wie Fati zusammengebrochen am Boden liegt und sich der kleine Mädchenkörper auf dem heissen Sand an seine Mutter schmiegt. Die beiden sind verdurstet, weil jede Hilfe zu spät kam.

Fati Dosso und ihre Tochter starben in der tunesischen Wüste, wo Temperaturen von über 50 Grad herrschen. Sie waren nicht freiwillig dorthin gelangt: Sie wurden von den tunesischen Behörden an der Grenze zu Libyen ausgesetzt und dann dem Tod überlassen. Immer wieder werden Migrant*innen und Geflüchtete in Tunesien auf diese Weise deportiert. Warum nur diese Grausamkeit?

Wie viele schreckliche Bilder müssen noch um die Welt gehen, bevor unsere Regierungen endlich zum Schluss kommen, dass eine Abschottungspolitik keine Lösung sein kann?

Diese unmenschliche Behandlung von Migrant*innen und Geflüchteten – nicht nur durch Tunesien – macht mich extrem wütend. Immer wieder ertrinken Geflüchtete im Meer, werden in menschenunwürdige Unterkünfte gepfercht, in Gefängnissen gefoltert – oder sogar in den Tod geschickt. Sie sind auf ihren Reisen Menschenhandel, Gewalt, Vergewaltigung und Versklavung ausgesetzt, weil Staaten in der Migrationspolitik und -praxis auf Abschreckung, Kriminalisierung und Diskriminierung setzen statt auf Schutz und Menschenrechte.

Wo bleibt da die Menschlichkeit? Wie viele schreckliche Bilder müssen noch um die Welt gehen, bevor unsere Regierungen endlich zum Schluss kommen, dass eine Abschottungspolitik keine Lösung sein kann?

Europa kann seine Hände nicht in Unschuld waschen! Die europäischen Staaten versuchen immer wieder, die Verantwortung für die Migrant*innen und Geflüchteten, die aus Regionen südlich der Sahara kommen, an die afrikanischen Mittelmeer- Anrainerstaaten zu delegieren, um die Menschen davon abzuhalten, nach Europa zu gelangen und hier ihre Schutzgesuche zu stellen. Statt gemeinsam mit den Regierungen Nordafrikas nach menschenrechtskonformen Lösungen zu suchen, hat die EU im Juli dieses Jahres eine Absichtserklärung unterschrieben, die Tunesien unter anderem finanzielle und technische Unterstützung zusichert, um Migration nach Europa zu verhindern. Die Vereinbarung wurde ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft ausgehandelt, und es fehlen darin entscheidende Menschenrechtsschutzmechanismen. Dieses Abkommen wird zu einer gefährlichen Ausweitung der bereits gescheiterten europäischen Migrationspolitik führen, und es signalisiert, dass die EU das zunehmend repressive Verhalten der tunesischen Regierung nicht nur duldet, sondern aktiv ermutigt. Die EUStaats- und -Regierungschef*innen setzen somit einmal mehr auf Massnahmen, die eine grobe Missachtung grundlegender Menschenrechte darstellen.

Wir sollten Migrant*innen endlich als Menschen wie dich und mich betrachten.

Wir müssen lernen, dass wir nichts verlieren, wenn wir geben. Wir müssen den Diskurs um Migration ändern und endlich einsehen, dass alle Menschen Rechte haben – egal, woher sie kommen, egal, wohin sie wollen. Indem wir tatenlos zusehen, wie Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Krieg sterben, lassen wir zu, dass sich der Diskurs um Migration weiterhin bloss um die eigenen Ängste und Interessen dreht. Wir lassen zu, dass diejenigen, die Geflüchtete aus dem Meer retten, kriminalisiert werden. Eigentlich sollten wir für sichere Fluchtwege und für mehr Resettlement-Plätze sorgen. Wir sollten die für Menschenrechtsverbrechen an Migrant*innen Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Und wir sollten Migrant*innen endlich als Menschen wie dich und mich betrachten und so an unsere Menschlichkeit appellieren. Tragödien wie der vermeidbare Tod von Fati Dosso und ihrer Tochter Marie dürfen sich nicht wiederholen!