Richard Holmes erstand die goldene Krone für vier Pfund. Holmes, ein Assistent in der Handschriftenabteilung des British Museum, kaufte den Schatz einem britischen Soldaten ab, der in der Schlacht von Maqdala gekämpft hatte. Die Krone aus drei filigranen Rängen und einer Kuppel, verziert mit Darstellungen der Apostel und der vier Evangelisten, war Teil eines grossen Schatzes, der aus der Bergfestung Maqdala und der zugehörigen Kirche in der heutigen Amhara-Region Äthiopiens geraubt worden war. Holmes versprach den Plünderern, später 2000 Pfund zu bezahlen – was dem damaligen Wert des verwendeten Goldes entsprach.
Der Beschuss der äthiopischen Festung Maqdala hatte am Morgen des 13. April 1868 begonnen. Mehrere Stunden lang feuerten die britischen Truppen rund 200 Raketen auf die Festung von Kaiser Tewodros II. von Äthiopien. Es war ein Akt der Vergeltung für die vier Jahre zuvor erfolgte Inhaftierung einiger europäischer Missionare und des britischen Konsuls. Mindestens 45 Personen starben bei dem Angriff, Hunderte wurden verletzt.
Für die britische Militärmacht war die Schlacht von Maqdala ein unbedeutendes Ereignis. Ihr erklärtes Ziel war schnell erreicht: Kaiser Tewodros liess die Geiseln frei. Da er sich nicht ausliefern wollte, erschoss er sich − mit einer Pistole, die ihm einst Königin Victoria geschenkt hatte. Für Äthiopien war die Schlacht von Maqdala hingegen ein historischer Schlag: ein toter Kaiser, Hunderte gestohlene Schätze und ein entführter Thronfolger.
Denn Tewodrosʼ Erbe, der siebenjährige Prinz Alemayehu, wurde von einem Hauptmann der britischen Armee nach England gebracht, wo die Regierung die Verantwortung für seine Erziehung übernahm. Zwölf Jahre später starb der Prinz an einer Brustfellentzündung und wurde in den Katakomben der St.-Georgeʼs-Kapelle auf Schloss Windsor beigesetzt, unweit der Überreste von Vorfahren der britischen Königsfamilie.
Wiederholte Forderungen nach Rückgabe
Was mit der Krone aus Maqdala geschehen sollte, diskutierte das britische Parlament bereits 1871. Eine Rückgabe wurde schnell verworfen. Stattdessen bezahlte die Regierung die von Holmes versprochenen 2000 Pfund an die Soldaten und übergab die Krone als Dauerleihgabe an eine Vorläufereinrichtung des Victoria and Albert Museum (V&A) in London. Einer der Wenigen, die die Plünderungen von Maqdala und den Raub der Krone damals kritisierten, war Premierminister William Gladstone. Er war der Meinung, die Schätze müssten nach Äthiopien zurückkehren.
Die Krone und ein goldener Krug aus Maqdala sind noch heute Teil der Dauerausstellung des V&A. Die übrigen Schätze befinden sich zum grössten Teil in einem Lager. Bereits 2007 hatte Äthiopien die Rückgabe der Krone und weiterer Artefakte gefordert. Als im Jahr 2018 das V&A mehrere Einzelstücke aus Maqdala vorübergehend ausstellte, erhielt die äthiopische Forderung erneut Aufmerksamkeit – jährte sich doch die Schlacht in jenem Jahr zum 150. Mal.
Das V&A weigerte sich, auf die Forderungen einzugehen. Museumsdirektor Tristram Hunt bot lediglich eine langfristige Leihgabe an Äthiopien an. «Dieser Vorschlag zeigt die Arroganz der britischen Museen», sagt Tahir Shah, Gründer der Scheherazade Foundation, die sich unter anderem für die Rückgabe von Raubkunst einsetzt. «Der Vorschlag der Leihgabe ist hinterlistig und kindisch. Das ist fast so, als würde ich meinem Nachbarn den Fernseher stehlen und dann anbieten, ihm diesen auszuleihen.»
«Der Vorschlag der Leihgabe ist hinterlistig und kindisch. Das ist fast so, als würde ich meinem Nachbarn den Fernseher stehlen und dannanbieten, ihm diesen auszuleihen.» Tahir Shah
Die äthiopische Botschaft in London stieg zunächst auf die Verhandlungen über eine Leihgabe ein, brach diese jedoch nach kurzer Zeit ab. Laut Alula Pankhurst, Mitglied des äthiopischen Komitees für die Rückgabe von Kulturgütern, gab es dafür mehrere Gründe, unter anderem vehemente Gegenstimmen in den Online-Netzwerken und aus der Diaspora, die Corona-Pandemie sowie den Beginn eines bewaffneten Konflikts in Äthiopien.
Heilige Tafeln unter Verschluss
Die Krone ist nicht der einzige Gegenstand aus Maqdala, der für Debatten sorgt. In einem Lagerraum des British Museums befindet sich eine Sammlung von elf christlichen Holz- und Steintafeln. Die sogenannten Tabots gehören der äthiopisch-orthodoxen Kirche und sind so heilig, dass nur ihre Priester sie sehen dürfen. Nach Aussage der äthiopischen Kulturministerin Hirut Kassaw sind die Tabots «ein grundlegender Teil des existenziellen Gefüges Äthiopiens und seines Volks».
«In der Tat kann eine Kirche in Äthiopien ohne ihre Tabots nicht als Gotteshaus funktionieren. Die Tabots werden an kirchlichen Feiertagen unter einem Tuch verborgen auf den Strassen präsentiert und von den Gläubigen verehrt», sagt Tahir Shah. «Ironischerweise hat sich das Museum, gerade weil es sich dieser religiösen Regel des Verbergens bewusst ist, bereit erklärt, die Tabots nicht für Ausstellungen oder Studienzwecke zur Verfügung zu stellen.» Äthiopien hat mehrfach die Rückgabe gefordert, doch die Antwort lautete stets Nein. Das beste Angebot des Britischen Museums war, dass es die Möglichkeit einer langfristigen Leihgabe in Betracht ziehen würde. Dabei sind die Tabots, wie viele der Objekte aus Maqdala, für Grossbritannien an sich relativ bedeutungslos − bis jemand sie zurückverlangt.
In den vergangenen Jahren häuften sich weltweit Forderungen nach einer Rückgabe geraubter Artefakte. So forderte Nigeria etwa die Rückgabe der Benin- Bronzen, Griechenland die Rückgabe von Parthe non-Skulpturen, Chile die Rückgabe eines Moai-Kopfs aus Stein. Während Länder wie Deutschland und Frankreich damit begonnen haben, Raubgüter zurückzugeben, hält Grossbritannien an diesen Schätzen fest. Jeremy Wright, der britische Kulturminister, äusserte einst die Befürchtung, dass die Museen leergefegt würden, wenn man die Restitution konsequent verfolgen würde. «Das Problem ist, dass Grossbritannien die gestohlenen Schätze mit Macht verbindet», sagt Tahir Shah. «Ich wünschte, die britische Regierung würde die Rückgabe als Akt der Versöhnung mit Äthiopien und nicht als Machtverlust ansehen.»
Das britische Parlament verweist in der Debatte um die Rückgabe der Maqdala-Schätze auf den andauernden Konflikt in Äthiopien und argumentiert, die Gegenstände könnten dort nicht angemessen gelagert oder womöglich sogar gestohlen werden. Dies erscheint geradezu zynisch, nachdem bekannt wurde, dass mehr als 2000 Gegenstände aus dem British Museum vermisst werden, gestohlen oder beschädigt wurden. Einige dieser Objekte tauchten auf Online- Verkaufsplattformen wie Ebay auf.
Die Museen begründen ihre Haltung meist mit dem British Museum Act, der es verbietet, wertvolle Objekte ausser Landes zu bringen. Dabei sehe das Gesetz auch eine Ausnahmeregelung vor, sagt Tahir Shah: «Werden Objekte für eine Sammlung als ungeeignet angesehen und nicht ausgestellt, können sie zurückgegeben werden – was auf die Tabots zutrifft. » Dies bestätigte 2021 ein Rechtsgutachten, doch die Treuhänder des British Museum gingen nicht darauf ein.
Erste Erfolge erzielt
Und doch kehrten einige Schätze von Maqdala zurück: 2019 gab das Nationale Armeemuseum in London zwei Haarlocken von Prinz Alemayehu an die äthiopische Regierung zurück. 2021 folgten 13 weitere Artefakte. Die Scheherazade-Stiftung hatte einen Teil dieser Gegenstände im privaten Kunsthandel erworben. Die Objekte sind heute im Äthiopischen Nationalmuseum zu sehen.
2023 kamen bedeutende Rückgaben dazu. Eine Nachfahrin des Offiziers, der Alemayehu nach England gebracht hatte, händigte eine Haarlocke des Prinzen aus ihrem Erbe an Äthiopien aus. Darüber hinaus ging ein Tabot an die äthiopische Kirche zurück: Ein Historiker, der den Verbleib äthiopischer Artefakte im Kunsthandel verfolgt, hatte die Tafel aufgespürt.
Ein kleiner Sieg für die Versöhnung – doch viele der für Äthiopien wichtigen Schätze sind weiterhin in Grossbritannien. Die Verhandlungen mit dem British Museum über die Tabots stecken fest. Die mehrfache Bitte um eine Überführung der menschlichen Überreste von Prinz Alemayehu wurde vom britischen Königshaus bislang abschlägig beantwortet. Und auch die Krone von Maqdala befindet sich weiterhin im Victoria and Albert Museum – versteckt hinter einer viel besuchten Ausstellung zu Coco Chanel.