© zvg
© zvg

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN DEZEMBER 2023 – Israel-Palästina Für Friedensbemühungen ist es nie zu früh

Ein Beitrag von Laurent Goetschel, Direktor von swisspeace. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2023.
Trotz der gegenwärtigen Eskalation des Israel-Palästina-Konfliktes muss jetzt an Perspektiven für einen Frieden gearbeitet werden. Welche Rolle kann die Schweiz dabei spielen?

Kaum bricht ein Krieg aus, steigt das Interesse an Frieden. Wobei es im Grunde genommen um die Gründe für dessen Scheitern geht. Als im Februar 2022 die russischen Truppen in die Ukraine einmarschierten, wurden nicht nur die vorangehenden Friedensbemühungen in der Ukraine infrage gestellt, sondern die gesamte europäische Friedensund Sicherheitsordnung, die seit dem Ende des Kalten Krieges aufgestellt worden war. Doch hatten diese Friedensbemühungen kaum je das Geschehen dominiert, basierte doch der Einbezug Russlands in den beiden letzten Jahrzehnten weitestgehend auf rein wirtschaftlichen Beziehungen und nicht auf einer politischen Wertegemeinschaft.

Kein Versagen des Friedens

Ähnliches lässt sich bezüglich des Krieges in Israel und Palästina sagen: Der sogenannte Oslo-Friedensprozess, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen und dem beide Parteien sich verpflichtet hatten, ist schon seit vielen Jahren ein toter Buchstabe. Der Terrorangriff der Hamas und die massive militärische Reaktion Israels lassen für viele Menschen jegliche Friedensbemühungen erst recht als nichtig erscheinen.

Haben denn all die Friedensbemühungen versagt? Es ist wichtig, aus dem Ausbrauch eines Krieges nicht auf das Scheitern des Friedens zu schliessen. Denn es würde bedeuten, dass Frieden nur als Abwesenheit von Krieg verstanden wird. Dabei sind moderne Friedensbemühungen viel umfassender und zielen darauf ab, die Bedingungen des Zusammenlebens der betreffenden Gesellschaften so zu gestalten, dass es eben gerade nicht zu solchen Eskalationen kommt. Dafür spielen Normen bzw. Werte, Inklusion und die Zivilgesellschaft eine essenzielle Rolle.

Über das Jetzt hinausdenken

In den letzten Wochen sind diese Prinzipien unter starken politischen Druck geraten. Die extreme Polarisierung in der politischen Rezeption des Konflikts hat die Tür für Parteinahmen geöffnet, welche suggerieren, dass sich die beiden Seiten dermassen voneinander unterscheiden, dass sie keinen Anspruch auf gleichwertige Behandlung gemäss humanitärem Völkerrecht haben. Ein ähnliches Denken hatte die Reaktion der USA auf die Terrorangriffe auf die Twin Towers in New York geprägt. Es führte zur Einrichtung des exterritorialen Gefängnisses in Guantánamo, in welchem immer noch Gefangene ausharren, die dem Geltungsbereich des Völkerrechts entzogen wurden.

Zum Kernbestand des humanitären Völkerrechts gehören die Unterscheidung zwischen Kämpfenden und der Zivilbevölkerung sowie die Einhaltung gewisser Normen im Umgang mit Kriegsgefangenen. Beide bezwecken, dass auch im Krieg ein Mindestmass an Menschlichkeit gewährleistet bleibt. Darüber hinaus sollen diese Normen auch dazu beitragen, dass die Konfliktparteien nach dem Krieg einfacher wieder zueinander finden. Denn je brutaler und inhumaner der Krieg geführt wird, umso schwieriger gestaltet sich der Wiederaufbau.

«Friedenspolitik ist keine Schönwetterpolitik.»

Perspektiven entwickeln

Für Israel und Palästina muss aber nach den verheerenden Entwicklungen der letzten Wochen für die rund 15 Millionen Menschen zwischen dem Jordan-Fluss und dem Mittelmeer dringend eine Perspektive entwickelt werden, die allen eine Zukunft bietet. Dies mag zurzeit als unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich erscheinen. Es gibt dazu aber keine konstruktive Alternative.

Die Rolle der Schweiz

Welche Rolle kann die Schweiz für eine solche Friedensperspektive spielen? Ihr friedenspolitisches Engagement war in Bezug auf den Nahen Osten bisher kohärent: Sie liess sich nicht in die eine oder andere Ecke drängen und pflegte möglichst zu allen Seiten Kontakte, sie führte jenseits von Uno-Beschlüssen keine Liste terroristischer Organisationen, sie beharrte gegenüber allen Parteien auf die Einhaltung des Völkerrechts, und sie arbeitet seit vielen Jahren mit nichtstaatlichen Akteuren zusammen. Es ist nachvollziehbar, dass dieses Engagement der Schweiz im Nahen Osten in einer emotional und politisch aufgeladenen Zeit, wie sie aktuell gegeben ist, unter Druck gerät. Es wäre jedoch fatal, wenn sich Regierung und Parlament dadurch beeindrucken liessen.

Friedenspolitik ist keine Schönwetterpolitik. Sie ist per Definition politisch, denn sie interveniert im Innersten machtpolitischer Kämpfe mit dem Ziel, einen Beitrag zur Reduktion militärischer Gewalt zu leisten. Dazu gehört die gezielte Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteur* innen, deren Ziele denjenigen der Schweizer Aussenpolitik entsprechen. Dass dies nicht bei allen Akteur*innen vor Ort gleichermassen auf Gegenliebe stösst, liegt in der Natur der Sache.

Alternative Stimmen fördern

Die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und der Gesundheitsvorsorge, um nur drei der betroffenen Bereiche zu nennen, kann jedoch kaum als Widerspruch zur Friedensförderung gesehen werden. Getreu diesen Prinzipien sollte sich die Schweiz nun darauf konzentrieren, ihren möglichen Beitrag für die Zukunft zu definieren. Neben der Verbesserung der desaströsen humanitären Lage wird es dabei in erster Linie darum gehen, den Palästinenser*innen in Gaza, die weder der Hamas noch anderen extremistischen Organisationen angehören, eine Stimme zu verleihen. Denn es war eine der Konstanten der letzten Jahre, dass die israelische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf die Abwesenheit eines aus ihrer Sicht akzeptablen Gesprächspartners im Küstenstreifen verwiesen.

Die Schweiz könnte solchen alternativen Stimmen Gehör und Legitimation sowie in Zusammenarbeit mit Dritten auch Schutz verschaffen. Mit diesem Spalt im aktuellen Felsen würde mit der Zeit vielleicht auch wieder etwas Licht in den Nahen Osten dringen.