© Tony Suarez / Adriana Elena Bravo Morales / Satellites of Art
© Tony Suarez / Adriana Elena Bravo Morales / Satellites of Art

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN DEZEMBER 2023 – Kunst und Menschenrechte «Kunst ist eine andere Art der Erkenntnis»

Interview von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2023.
Die indigene Künstlerin Adriana Elena Bravo Morales verbindet in ihren Werken die unterschiedlichsten Kunstformen «mit dem Ziel, die patriarchalen Kräfte sichtbar zu machen». Das ausführliche Interview mit der bolivianischen Künstlerin.
AMNESTY: Erzählen Sie uns bitte, womit Sie sich in Ihrer Arbeit beschäftigen.

Adriana Elena Bravo Morales: Zunächst habe lange zum Kontext der bolivianischen Folklore recherchiert. Damals befand ich mich in einer Krise, denn ich hatte den brutalen Mord an einem homosexuellen hautnah Freund miterleben müssen. Dieses Ereignis brachte mich aus der Fassung. Dazu kamen andere Probleme künstlerischer Art, bei denen ich diskriminiert und verletzt wurde, weil ich eine Frau, jung und homosexuell war. Deshalb beschloss ich im Jahr 2000, nach Mexiko zu gehen, um dort einen Master in Grafik zu machen. Ich behauptete scherzhaft, ich sei ein sexueller Flüchtling. Das mexikanische Umfeld bot mir die Möglichkeit einer relativen Freiheit. Ich lebte in einer Stadt mit Millionen von anonymen Menschen, in der es kein Problem war, meine Sexualität voll auszuleben.

Aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen musste ich jedoch nach Bolivien zurückkehren. Ich kam zurück in ein Land, das in einigen Bereichen sehr fortschrittlich und in anderen sehr rückständig war. Der Schock war ziemlich heftig.

Und danach kam es zum Bild «Beso de Chola»?

Ja, es entstand nach einem Erlebnis auf einem Fest: Meine Freundin wurde von einer Chola, wie die indigenen Frauen in traditionellen Kleidern gemeinhin genannt werden, sehr offensiv angeflirtet. Ich war schockiert über die deutlichen Avancen der Chola. Meine eigene Reaktion bestürzte mich aber noch mehr: Wie konnte ich als lesbische Frau nur so reagieren? Ich fragte mich, warum es in unserer Gesellschaft keine Bilder von küssenden indigenen Frauen gibt. Weil die hetero-patriarchale Gesellschaft dies schlicht nicht vorsieht! Daher beschloss ich, mit meiner Kuratorin Maria Teresa Rojas dieses verborgene Thema zu visualisieren. Uns war klar, dass wir uns selbst dafür zur Verfügung stellen mussten, da wir mit negativen Reaktionen, sogar Aggressionen rechnen mussten.

Ursprünglich hatten wir geplant, dass die Arbeit vor allem in den sozialen Netzwerken zu zeigen, und wir hofften, dass sie sich dort verbreiten würde.  Eines der Probleme der zeitgenössischen Kunst besteht darin, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur eine kleine Gruppe von Menschen erreicht, während die Pop-Art alle erreicht.

Womit wir nicht rechneten, war die unglaubliche Aufmerksamkeit, die das Bild dann aber erhielt.

Beso de Cholas wurde dann auch als riesengrosses Bild an belebten Orten in der Hauptstadt aufgehängt. Wie haben die Menschen denn reagiert, als das Werk auf der Strasse ausgestellt wurde?

Zunächst überrascht. Dann kam die Erkenntnis, dass das, was sie da sahen, eine Realität darstellt. Um genau diesen Moment der Verblüffung ging es, in der die Betrachtenden die neutrale Haltung gegenüber dem Gesehenen verlieren, weil es sie in ihrer Intimsphäre berührt. Es ist sehr faszinierend, wie stark die Konfrontation mit dem Thema der Sexualität unser Verhalten beeinflusst.

Ich will, dass die Leute verstehen, dass wir alle sexuelle Wesen sind: die Älteren, die Menschen mit Behinderungen … und natürlich auch die indigenen Frauen. Ich möchte die Bilder in den Köpfen erweitern und ein neues, ungewohntes Bild hinzufügen. Denn die Massenmedien, die Werbung, die Pornografie bieten uns nur ein Vorbild: wohlproportionierte Körper, wie sie die westliche Ästhetik als «attraktiv» taxiert, ausgehend von den antiken griechischen Idealen der Perfektion und der Symmetrie. So kommt es, dass wir alle als Vorbild für Schönheit nur kaukasische Menschen in unseren Köpfen haben. Es gibt ja sogar Vorgaben für Pornodarstellerinnen, wie ihre Vulven auszusehen haben.

Provokative Verbindung von folkloristischer Kunst und Feminismus: Im Stil der traditionellen Stick-Techniken der Anden schafft Adriana Elena Bravo Morales kleine Kissen und weitere Gegenstände, die Vulven darstellen. © Adriana Bravo / Georgina Santos

In Ihrer Arbeit steht das Anliegen, indigene Frauen als starke Frauen zu zeigen, im Zentrum.

In Bolivien und Mexiko, wo der frauenfeindliche Machismo in allen sozialen Schichten vorkommt, habe ich die Körper von gebrochenen jungen Frauen voller Narben und Überlebende von Gewalt gesehen. Wir alle haben doch vor allem die Bilder von indigenen Frauen im Gedächtnis, die gelitten haben und denen Gewalt angetan wurde. Das ist eine unbestreitbare Realität.
Aber für meine Bilder wollte ich einen anderen Kontext zeigen, einen «festlichen Raum», ohne Hierarchien der Geschlechter und sexuellen Neigungen. Das Bild Beso de Chola zeigt zwei bolivianische Frauen als starke Frauen, die in traditionellen Kleidern mit schönen Stoffen und Pailletten bereit sind, an ein Fest zu gehen. 

Waren Sie wegen Ihrer Kunst, in der Sie sich klar gegen das Patriarchat positionieren, auch schon in Gefahr?

Mir wurde Scheiben meines Hauses geworfen und ich habe verbale Aggressionen und Gewalt erlebt. Fast schlimmer empfinde ich es aber, wenn Freund*innen vorgeben, sie würden versuchen, mich und mein Werk zu verstehen – dann  aber doch nichts verstehen. Am schlimmsten sind Männer, die sagen, dass sie Verbündete sein wollen, aber dann nicht wirklich an sich arbeiten. Sie sehen nicht, wie privilegiert sie sind: Sie müssen sie sich nicht tagtäglich aus der Fassung bringen lassen, wie wir, die weiblichen Geschlechts sind. Mich ärgern sowieso alle, die nach aussen politischen Korrektheit heucheln.

In Anbetracht der Gewalt in vielen Themen, die ich behandle, sind die genannten Aggressionen gegen mich aber harmlos. Dazu kommt, dass ich als bolivianische Künstlerin oft ignoriert werde. Diese Unsichtbarmachung trägt immerhin dazu bei, dass man mich nicht am Arbeiten hindert.

Glauben Sie, dass die Kunst die Macht hat, Gleichheit, Menschenrechte und Vielfalt zu verteidigen?

Ja, aber unabhängig davon entspringt Kunst aus dem Innersten der Kunstschaffenden. Das Zeichnen selbst wirft Fragen auf, die das grosse Ganze infrage stellen. Kunst ist eine Art der Erkenntnis, die uns dazu bringt, nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern auch emotional, gar intuitiv. Eine bildende Künstlerin zu sein, gibt die Möglichkeit, Verborgenes darzustellen und Unterdrückung zu denunzieren.