Am 7. Oktober dieses Jahres hat die Hamas Israel angegriffen und dabei ein Massaker an Zivilist*innen verübt: Junge Menschen und Kinder wurden brutal getötet, mehr als 200 Geiseln verschleppt. Der Schock der Israelis sitzt tief. Wir trauern mit den Angehörigen der Getöteten und bangen um das Leben der Geiseln. Die militärische Reaktion der israelischen Regierung trifft ebenfalls vor allem die Zivilbevölkerung: Im Gazastreifen sterben ganze Familien im Bombenhagel, Häuser und Infrastruktur werden zerstört. Ein Grossteil der Bewohner*innen des Gazastreifens ist auf der Flucht inmitten einer humanitären Katastrophe.
Seit dem 7. Oktober recherchieren und dokumentieren die Teams von Amnesty die Menschenrechtsverletzungen vor Ort. Bei bewaffneten Konflikten berufen wir uns in unserer Arbeit auf das humanitäre Völkerrecht inklusive der Genfer Konventionen. Es hat universelle Gültigkeit und bildet den rechtlichen Rahmen für den Schutz der Zivilbevölkerung. Verletzen Konfliktparteien das humanitäre Völkerrecht, kann das als Kriegsverbrechen gewertet werden. Amnesty arbeitet auf Grundlage des Rechts, wir ergreifen nicht Partei. Trotzdem ist Amnesty immer wieder Kritik ausgesetzt. Wir werden entweder als antisemitisch oder Israel-feindlich bezeichnet. Von der anderen Seite wird uns vorgeworfen, das Leid der Palästinenser*innen nicht ausreichend zu thematisieren. Dabei wird nicht nur Amnesty als Menschenrechtsorganisation massiv kritisiert, auch einzelne Personen, die für Amnesty aktiv sind, werden angegriffen.
Die derzeitige Eskalation hat zu einer beispiellosen Polarisierung der öffentlichen Meinung geführt. Dabei schwindet der Sinn für die Menschlichkeit. Ich weigere mich zu akzeptieren, dass Empathie mit den leidenden Menschen in Gaza und die Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee anti-israelisch oder gar antisemitisch sein sollen. So wenig wie eine deutliche Verurteilung der Morde und der Geiselnahmen der Hamas antipalästinensisch ist.
Wenn ich Hakenkreuze auf den Strassen meiner Gemeinde sehe, erschüttert mich das. Ebenso wie die steigende Zahl der Angriffe auf Juden und Jüdinnen weltweit. Den wachsenden Antisemitismus dürfen wir nicht tolerieren, wir müssen uns ihm entschieden entgegenstellen. Wir müssen uns aber auch dafür einsetzen, dass das Leben der palästinensischen Zivilist*innen geschützt wird, dass nicht ein ganzes Volk kollektiv für die Verbrechen der Hamas bestraft wird. Beides geht gleichzeitig. Es ist möglich, in einer Zeit des Hasses für Menschenrechte, für Verständigung und für Menschlichkeit einzustehen.
1948 ist das Jahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 1948 ist auch das Jahr der Staatsgründung Israels, das umgehend angegriffen wurde. 1948 ist das Jahr der Nakba, wie die Palästinenser*innen die Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat bezeichnen. Diese Traumata sitzen tief. Bei Israelis, die das Existenzrecht ihres Staats fortlaufend infrage gestellt sehen. Bei Palästinenser*innen, die um ein freies Leben in Würde ringen. Mut machen in dieser Zeit die Menschen, die auf der ganzen Welt gemeinsam trauern, gemeinsam für Frieden demonstrieren und die Hoffnung nicht aufgeben, dass dieser eines Tages möglich sein wird.