Eventuell das älteste Recheninstrument der Welt: Ishango-Knochen aus dem Kongo, derzeit im Royal Belgian Institute of Natural Sciences. © agefotostock/Imago
Eventuell das älteste Recheninstrument der Welt: Ishango-Knochen aus dem Kongo, derzeit im Royal Belgian Institute of Natural Sciences. © agefotostock/Imago

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN DEZEMBER 2023 Rückeroberung präkolonialer Geschichte

Protokoll von Elisabeth Wellershaus. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2023.
Die Künstlerin und Kuratorin Molemo Moiloa ist Mitbegründerin von Open Restitution Africa, einer Rechercheplattform für die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter. Sie fordert einen Perspektivenwechsel in der vom globalen Norden dominierten Debatte über den Umgang mit den Objekten.

Molemo Moiloa ist Mitglied des Johannesburger Künstler*innenkollektivs MADEYOULOOK, www.made-you-look.net © privat

Eines der grössten Probleme im internationalen Diskurs um Restitution ist die Tatsache, dass nur ganz bestimmte Stimmen zum Thema gehört werden. Denn in der Regel stammen die Expert*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht aus Afrika. Das hat zur Folge, dass die Debatte in westlichen Ländern und Institutionen noch immer mit einem fast ausschliesslichen Fokus auf die Objekte selbst geführt wird. Die Begleitumstände, die viele Communities in afrikanischen Ländern durch den Verlust dieser Objekte geprägt haben, werden dabei nicht wirklich wahrgenommen. Schlicht, weil es in der Kommunikation zwischen dem Westen, afrikanischen Expert*innen und betroffenen Menschen auf dem Kontinent harzt. Für mein Verständnis geht es aber um viel mehr als um die simple Rückgabe und das Bewahren von Kunstgegenständen.

Das Projekt Open Restitution Africa, das ich mit Chao Tayiana Maina leite, trägt Informationen über Objekte, neue Museumspraktiken und das Wissen aus verschiedenen Communities zusammen. Denn viele dieser Communities haben seit geraumer Zeit keinen Zugriff auf grosse Teile ihres kulturellen Erbes. Bei Recherchen war ich zufällig auf das Thema gestossen. Ich hatte für ein Projekt nach Daten über zurückgeführte Artefakte gesucht und festgestellt: Es gab keine strukturierten Datensammlungen, die den Restitutionsprozess greifbar machen konnten. Als ich Chao bei einer Konferenz in Namibia kennenlernte, ergab sich schnell eine Zusammenarbeit. Chao hatte mit African Digital Heritage eine Plattform gegründet, die sich mit der Digitalisierung von Kulturgütern beschäftigte. Ich war an Datenanalysen zum Restitutionsprozess interessiert.

Kulturgüter und Digitalisierung

Relativ schnell wurde uns klar, dass Digitalität ein entscheidendes Werkzeug war, um die Restitutionsdebatte inklusiver zu gestalten. Es gab etliche Beispiele. Etwa die Arbeit des Women’s History Museum in Sambia, das per WhatsApp versucht, Geschichten über gestohlene Objekte zusammenzutragen, die einst das Alltagsleben sambischer Frauen prägten. Oder Chao Tayiana Mainas 3-D-Modelle von den ehemaligen Arbeitslagern in Kenia, die sich mit der Mau-Mau-Bewegung und den traumatischen Folgen der Kolonisierung beschäftigen. Digitale Methoden sind eine Möglichkeit, sich den verborgenen Aspekten der Vergangenheit zu nähern. Aber sie zeigen auch die Fragilität afrikanischer Systeme – die Tatsache, dass der Zugang zum Internet noch längst keine flächendeckende Selbstverständlichkeit auf dem Kontinent ist. Dabei sind viele Alltagspraktiken in afrikanischen Ländern bereits viel stärker digitalisiert als in anderen Ländern der Welt, etwa durch FinTech oder mobile Geldtransfers. Trotz Zugangsbeschränkungen liegen also grosse Potenziale in der Digitalisierung unseres Kulturerbes – eben weil Digitalität in Afrika so entscheidend für die Alltagsbedürfnisse vieler Menschen ist.

«Welchen Schaden hat der Raub angerichtet, und wie kann eine Heilung aussehen?» Molemo Moiloa

Auch westliche Museen arbeiten längst mit dem Konzept der Digitalisierung, teilweise werden ganze Sammlungen im Schnellverfahren digitalisiert. Dadurch entstehen neue Fragen zu Themen wie Eigentümerschaft, Urheberschaft und Restitution. Und es geht abermals um Folgendes: Welchen Schaden hat der Raub zahlreicher traditioneller Objekte in den entsprechenden Communities angerichtet, und wie kann eine Heilung – nach den geplanten Rückgaben – aussehen?

Ausbruch aus den klassischen Museen

Ein Ansatz, der in meiner Erfahrung immer mehr Form annimmt, ist die Zusammenarbeit mit Menschen ausserhalb der Museen. Es gibt bereits eine Reihe von Museen und Ausstellungsprojekten in afrikanischen Ländern, die sich von der Objektfixierung lösen und sich auf soziale Fragen konzentrieren. Viele Museen wollen neue Netzwerke gründen, in denen Praktiker*innen aus Bildung, Sozialarbeit und anderen Bereichen zusammenkommen, um über die Museumsmauern hinaus zu wirken. Ein interessantes Beispiel lieferte vor einer Weile ein Museum in Uganda. Das Ausstellungsthema war Milch. Mit einem Lieferwagen fuhren die Mitarbeitenden des Museums in die ländlichen Gegenden, um über Milch zu reden – ein Getränk, das in der nordugandischen Kultur eine grosse Rolle spielt.

Vor allem in der Auseinandersetzung mit geraubten Kulturgütern müssen wir die Debatten öffnen. Bei allem, was über die Jahrhunderte zerbrochen ist, wird es viel Zeit, Raum und Austausch brauchen, um die Objekte wieder in unsere Kulturen zu integrieren. Dadurch wird es auch in der Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen zu Reibereien und schmerzhaften Auseinandersetzungen kommen. Immerhin geht es um die Rückeroberung einer präkolonialen Geschichte. Es geht um komplexe kulturelle Traditionen, die Afrikaner* innen seit Jahrhunderten vom globalen Norden abgesprochen werden.

Die Kraft der Restitution

Das Restitutionsthema lässt sich viel breiter denken, als es bislang geschieht. Neben den Benin-Bronzen, die mittlerweile vielen ein Begriff sind, gibt es ein riesiges materielles und immaterielles Erbe. Was ist zum Beispiel mit den Überresten der Dinosaurier von Tendaguru, die im heutigen Tansania gefunden wurden und die derzeit im Berliner Naturkundemuseum liegen? Was ist mit dem Ishango-Knochen aus dem Royal Belgian Institute of Natural Sciences, einem mit Einkerbungen versehenen Steinzeitobjekt, das eventuell als eines der weltweit ersten Recheninstrumente genutzt wurde und ursprünglich aus dem Kongo stammt?

Wir müssen in der Restitutionsdebatte auch über Naturwissenschaften und Archäologie sprechen. Wären die genannten Gegenstände in Europa gefunden worden, zählten sie vermutlich ganz selbstverständlich zur «eigenen» kulturellen und wissenschaftlichen Geschichte. Mit dem Ursprungsort auf dem Kontinenten Afrika aber ändern sich die Erzählungen. Wir müssen darüber reden, wie sich die Wahrnehmungen an dieser Stelle verschieben und wie neue Formen der Zusammenarbeit entstehen können. Auch in Afrika muss offen und selbstreflektiert darüber nachgedacht werden, wie die Museen der Zukunft aussehen sollen. Für vieles fehlt uns bislang das Werkzeug – wir müssen also alle lernen.