Wer den eigenen Körper nicht kennt, kann ihn auch nicht gesund halten. Darum beginnt die Behandlung von Patientinnen in der Frauenklinik Motherbeing in Kairo mit einer kleinen Sexualkunde: «Body Basics» heisst das Dokument, das Mädchen und Frauen vor ihrem Besuch in der Praxis zugeschickt bekommen. Es beschreibt den Aufbau der Brust und der Vulva und betont die Vielfalt der Erscheinungsformen: «Alles ist normal, alles ist schön.» Die Broschüre erklärt, wie Eierstöcke und Uterus funktionieren, was die Klitoris ist und dass sie ein viel grösseres Organ ist, als viele denken. Das Dokument soll die Patientinnen ausrüsten mit dem nötigen Wissen, um die richtigen Fragen zu stellen und die Diagnose zu verstehen.
«Weil es weder in der Familie noch in der Schule sexuelle Aufklärung gibt, müssen wir Frauen unsere Gesundheit durch jede Menge Vorurteile und Falschinformationen navigieren.» Nour Emam, Gründerin der Klinik
Die Motherbeing Klinik ist anders als andere gynäkologische Praxen in Ägypten und der Region – ja, eigentlich anders als viele frauenärztliche Praxen auf der Welt. Denn hier ist sexuelle Aufklärung fester Bestandteil der Behandlung. Das wichtigste Prinzip der Klinik: Keine Frau wird komisch angeschaut oder verurteilt, weil sie sexuell aktiv, aber unverheiratet ist oder gegen andere konservative Regeln verstösst. Denn, so die Überzeugung bei Motherbeing, viel Unwissen fusst in der Tabuisierung weiblicher Körper und Sexualität.
Die Liste der Irrglauben, denen sich die Klinik entgegenstellt, ist lang: Ein intakter Hymen beweist Jungfräulichkeit? Falsch. Schmerzhafte Perioden bedeuten höhere Fruchtbarkeit? Falsch. Wer einmal per Kaiserschnitt geboren hat, muss dabei bleiben? Falsch. «Weil es weder in der Familie noch in der Schule sexuelle Aufklärung gibt, müssen wir Frauen unsere Gesundheit durch jede Menge Vorurteile und Falschinformationen navigieren», sagt die 31-jährige Ägypterin Nour Emam im Video-Call.
Gewalt und Unwissen
Nour Emam war schon immer fasziniert von Schwangerschaft und Geburt. Die studierte Musikerin mit Nasenpiercing und verspielten Tattoos arbeitete jahrelang als DJ und Produzentin – bis die Geburt ihrer Tochter 2019 zum traumatischen Wendepunkt in ihrem Leben wurde. Ohne Grund hätten die Ärzt*innen viel zu früh die Wehen eingeleitet und dann einen Kaiserschnitt durchgeführt, den Emam eigentlich nicht wollte. Gewalt in der Geburtshilfe gibt es nicht nur in Ägypten, sie ist ein weltweites Phänomen. Falsche Informationen, Unwissen und Scham führen dazu, dass viele Frauen ihre Bedürfnisse bei der Geburt nicht durchsetzen können. Dann kommt es vor, dass Ärzt*innen gegen ihren Willen oder ohne Betäubung Eingriffe vornehmen, die Gebärenden respektlos behandeln oder vernachlässigen.
Wie bei Emam: Obwohl sie sich intensiv auf die Geburt vorbereitet hatte, war sie im entscheidenden Moment machtlos. Nachdem ihre Tochter zur Welt gekommen war, fiel sie in eine tiefe Depression. Während dieser Zeit stiess sie auf den Beruf der Doula, einer persönlichen Schwangerschafts- und Geburtsbegleiterin. Kurzerhand absolvierte Emam eine Online-Ausbildung in Kanada. Danach begann sie auf Instagram für ihre Arbeit zu werben und sich für die Rechte von Frauen während Schwangerschaft und Geburt starkzumachen. Schnell bemerkte sie, dass viele ihrer Follower*innen keine werdenden Mütter waren, sondern Mädchen und junge Frauen mit Fragen zu ihren Körpern.
«Reproduktive Gesundheit ist keine Momentaufnahme, sondern ein Spektrum», wurde Emam klar. «Um eine positive Geburtserfahrung zu haben, muss man vorher aufgeklärt werden», sagt sie. Und so startete sie im ersten Pandemiejahr Online-Kurse zu Menstruation, Sex und Verhütungsmethoden. Ägypten wurde damals gerade von der arabischen MeToo-Bewegung erfasst, nachdem Dutzende junge Frauen in den sozialen Medien sexuelle Übergriffe öffentlich gemacht hatten. «Es ging vor allem um sexuelle Belästigung, aber wir wurden damals zu einer der führenden Stimmen für sexuelle und reproduktive Rechte», erinnert sich Emam.
Einladende Atmosphäre
Die Räumlichkeiten der Klinik sind so gestaltet, dass sich die Patientinnen wohlfühlen.
© Motherbeing
Drei Jahre nach der Gründung hat Motherbeing mehr als 600 000 Follower*innen auf Instagram. Anfang 2023 wagte Emam den nächsten Schritt und eröffnete eine Klinik in Kairo. Dort will sie alles anders machen als konventionelle gynäkologische Praxen. Über die Jahre hat ihr Team die schlechten Erfahrungen von Frauen mit ihren Gynäkolog*innen dokumentiert: Zum Beispiel erklärten diese den Patientinnen die Eingriffe nicht vor Beginn der Behandlung und führten ohne Zustimmung Untersuchungsgeräte ein. Davon wollen die 26 Mitarbeiter*innen von Motherbeing sich abgrenzen. Alle Räume der Klinik sind mit gemütlichen Sofas ausgestattet und in warmen Farben gestaltet. Mit einer Pflege-Koordinatorin können Patientinnen nach der Untersuchung in Ruhe offene Fragen und weitere Schritte besprechen.
Gesundheitspraxen sind in Ägypten ein knappes Gut. Zugang erhalten vorrangig die, die bezahlen. Öffentliche Krankenhäuser sind überfüllt, wer schnell und besser behandelt werden möchte, zahlt privat. Die meisten Ägypterinnen können sich die Behandlung bei Motherbeing nicht leisten: «Wir würden gerne pro bono oder subventionierte Behandlungen anbieten», sagt Klinikdirektorin Nadine El-Borollossy. Doch bisher fehlen ihnen die Mittel. Immerhin macht Motherbeing einen Teil ihres Angebots kostenlos auf Instagram zugänglich, indem Informationsvideos gepostet und Fragen beantwortet werden. Zu günstigen Preisen können Frauen online an Kursen teilnehmen, Ratgeber bestellen oder sich beraten lassen.
«Manche Mädchen leiden jahrelang an Infektionen, weil ihre Eltern sie nicht zu Gynäkolog*innen bringen.» Nadine El-Borollossy
Diese Online-Sprechstunden ermöglichen auch Patientinnen den Zugang, die ihre Eltern nicht von einem Klinikbesuch überzeugen können: «In unserer Kultur ist es nicht üblich, dass unverheiratete Frauen zur Vorsorge gehen», sagt El-Borollossy. Deren Gesundheit werde normalerweise ausgeblendet, kritisiert auch Emam: «Manche Mädchen leiden jahrelang an Infektionen, weil ihre Eltern sie nicht zu Gynäkolog*innen bringen.» Die digitale Untersuchung ist niedrigschwelliger. Junge Frauen können, wenn nötig, ihre Kameras abschalten oder auch nur per Chat eine der drei Ärzt*innen konsultieren. Ausserdem wird die Klinik so auch für Frauen aus Ägyptens ländlichen Gegenden und aus den Nachbarländern zugänglich.
Doch den Mitarbeiter*innen von Motherbeing geht es nicht nur um Gesundheit, sondern auch um ein selbstbestimmtes Sexualleben. Darüber öffentlich aufzuklären, ist in Ägypten eine Herausforderung. «Konservative warfen uns vor, dass wir Mädchen zu sexueller Freizügigkeit ermutigten», sagt Emam. Seit sie Ärzt*innen im Team hätte, sei es einfacher – die Arbeit stehe dadurch in einem medizinischen Kontext. Und sie haben sich angepasst: «Wir haben verstanden, dass wir mit einer behutsameren Wortwahl mehr Menschen erreichen können», sagt Emam. Zum Beispiel sprechen sie und ihre Kolleg*innen von der «Hochzeitsnacht» statt dem «ersten Mal», sagen «Ehemann» statt «Partner». «Dafür können wir jetzt offen über Sex und Intimität sprechen und darüber, dass Frauen ein Recht auf sexuelle Lust haben.»