Ausgetrocknetes Land: Mit kleinen Holzbarrieren sollen die Wanderdünen gebremst werden. © Louise Lascouès
Ausgetrocknetes Land: Mit kleinen Holzbarrieren sollen die Wanderdünen gebremst werden. © Louise Lascouès

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2024 – Konflikte im Sahel Im Griff der Gewalt

Von Louise Lascouès*, Korrespondentin in Diffa. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2024.
Die Gewalt rivalisierender extremistischer Gruppierungen beraubt die Bevölkerung im Osten Nigers ihrer Lebensgrundlagen. Die schwierige Situation wird durch die globale Erwärmung noch verschärft.

Die hölzernen Schiffe, die zum Fischen benutzt wurden, die Lagerräume für den frisch gefangenen Fisch, das Maisfeld, der Tomaten- und Kartoffelgarten neben dem Haus: Im Gedächtnis von Mahamadou Zakari verblassen die Bilder seines Dorfes zunehmend. Der 45-jährige ehemalige Fischer weiss nicht mehr genau, wann er von Kangarwa, der Insel im Tschadsee an der Grenze zwischen Nigeria und Niger, fliehen musste. «Das war vor etwa zehn Jahren», schätzt er. Nicht vergessen hat er den Tag, an dem er «alles verloren» hat, als Mitglieder der extremistischen Gruppierung Boko Haram sein Dorf angriffen und ihn, seine Frau und die dreizehn Kinder vertrieben. Es war an einem Freitag gegen sechs Uhr morgens, das weiss er noch. Es war noch dunkel, als die ersten Schüsse fielen. «Wir rannten los und schwammen durch den See zu einem Boot. Boko Haram hat viele Menschen getötet, sogar Frauen und Kinder. Auch ich habe Verwandte verloren», sagt Mahamadou Zakari.

An diesem Tag seien mindestens 20 Dorfbewohner*innen auf Kangarwa massakriert worden. Kangarwa wurde zu einem Epizentrum der Gewalt von Boko Haram und der Gruppe Islamischer Staat in Westafrika (ISWAP). Nach der Flucht durch den See wurden zwei von Mahamadous Kinder krank und starben – sie waren erst sechs und sieben Jahre alt. Die Familie flüchtete zunächst in das Dorf Baroua in der Nähe des Sees, musste aber einige Monate später wegen eines weiteren Angriffs dschihadistischer Truppen erneut fliehen. Dasselbe wiederholte sich, und 2020 flüchteten sie nach einem erneuten Angriff von Kabléwa in die Gemeinde Maïné- Soroa, rund 100 km weiter westlich.

In Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, leiden fast 3 Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit,17 Prozent von ihnen befinden sich in einem kritischen Zustand. Seit dem Putsch der Armee Ende Juli letzten Jahres wächst die Angst vor einer weiteren Verschärfung der humanitären Lage.

In Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, leiden fast 3 Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit, 17 Prozent von ihnen befinden sich in einem kritischen Zustand. Seit dem Putsch der Armee Ende Juli letzten Jahres wächst die Angst vor einer weiteren Verschärfung der humanitären Lage. In der Region Diffa im Südosten des Landes, in der sich die meisten Vertriebenen und Geflüchtete befinden, wurden mehr als 200 000 Menschen durch die Gewalt von ihrem Land vertrieben. Auch der Hunger und die Dürre, die die Böden der Wüstenregion weiter austrocknet, haben das Ihrige zur Lage getan. Mehrere Länder der Europäischen Union stellten zudem ihre Entwicklungshilfe ein, die nach Angaben der Weltbank fast 9 Prozent des BIP von Niger ausgemacht hatte. Aufgrund der geschlossenen Grenzen sind Lieferungen von mehr als 9000 Tonnen Lebensmitteln des Welternährungsprogramms (WFP) im Ausland blockiert.

Der schwarze Freitag

Interne Konflikte, extremistische Gewalt und politische Instabilität haben in Verbindung mit Armut und den Folgen des Klimawandels die gesamte Sahel-Region in den letzten Jahren in eine beispiellose humanitäre Krise gestürzt. So mussten seit dem Ausbruch der Krise auch in Mali im Jahr 2012 mehr als fünf Millionen Einwohner*innen aus ihren Häusern fliehen.

Die Terroranschläge in Niger halten an, neben der Bedrohung durch Boko Haram und ISWAP im Südosten sieht sich das Land an der Grenze zu Mali und Burkina Faso nun noch mit einer zweiten dschihadistischen Front konfrontiert, wo Gruppen, die dem Islamischen Staat in der Grossen Sahara (EIGS) und al-Qaida angehören, ihren Einfluss immer weiter ausbauen. Das regierende Militär hat dennoch den Abzug der französischen Truppen aus dem Land gefordert, die ein Schlüsselpartner des Westens im Kampf gegen den Extremismus in der Sahelzone waren.

Niger war zunächst lange Zeit von der islamistischen Gruppe Boko Haram verschont geblieben, die seit 2009 im Norden Nigerias aktiv ist. Doch am 6. Februar 2015 kam es zu einem ersten Angriff: An diesem «schwarzen Freitag» führte Boko Haram eine Doppeloffensive gegen die Städte Bosso und Diffa, die Hauptstadt der Region, durch. Mehrere nigrische Armeeangehörige wurden getötet. Der Angriff wurde zurückgeschlagen, löste in der Region jedoch einen grossen Schock aus und markierte den Eintritt Nigers in den Kampf gegen Boko Haram, deren Gewalt keine Grenzen zu kennen scheint. Die Überfälle haben sich seither vervielfacht, es kam zu Selbstmordattentaten und Entführungen. Zurück bleiben verbrannte und geplünderte Dörfer.

Armut als Ursache

2015 gründeten die Anrainerstaaten des Tschadsees – Niger, Nigeria, Tschad, Kamerun und Benin – eine militärische Koalition, die multinationale gemischte Truppe (Joint Multinational Force, JMF), die aus 8500 Soldaten besteht. In der Folge riefen die nigrischen Behörden zur freiwilligen Kapitulation auf und richteten ein Deradikalisierungs- und Reintegrationsprogramm ein. Hunderte ergaben sich daraufhin.

Zwar haben die Sicherheitsoperationen die islamistischen Gruppierungen geschwächt, doch die Anschläge dauern trotzdem an. Der ISWAP-Zweig ist zur grössten Bedrohung in der Region um den Tschadsee geworden. «Diese Fraktion ist viel besser organisiert und hat logistische Unterstützung aus Mali erhalten. Einige Männer haben trotzdem wieder zu den Waffen gegriffen, auch weil sie keine Arbeit fanden», sagt der Politologe Maman Inoua Elhadji Mahamadou Amadou, der sich auf die Region Diffa spezialisiert hat.

«Wer verdächtigt wird, mit den Behörden zusammenzuarbeiten oder ihnen Informationen zu geben, wird hingerichtet.» Politologe Maman Inoua Elhadji Mahamadou Amadou

Dutzende Dörfer an den Ufern und auf den Inseln des Tschadsees sind unter die Kontrolle von dschihadistischen Gruppen geraten, die mit Waffengewalt die Scharia, das islamische Recht, durchsetzen. «Die Bewohner*innen müssen Zakat (eine im Namen des Islams erhobene Steuer, Anm. der Red.) auf ihr Vieh und ihre Ernte zahlen», sagt Maman Inoua Elhadji Mahamadou Amadou, der mit ehemaligen Kämpfern sprechen konnte. «Das Tragen von Kopftüchern ist für die Frauen obligatorisch, und das Musizieren ist verboten. Wer verdächtigt wird, mit den Behörden zusammenzuarbeiten oder ihnen Informationen zu geben, wird hingerichtet. Diebe werden vor Gericht gestellt und ihre Hände abgehackt.»

Rückkehr beinahe unmöglich

Die Gewalt hat viele Menschen aus den Dörfern am Tschadsee und an den Ufern des Flusses Komadougou Yobé, der Niger und Nigeria voneinander trennt, dazu veranlasst, entlang der Nationalstrasse 1 Zuflucht zu suchen. In Maïné-Soroa, wo sich mehrere von Be- Die am Tschadsee und in der Region Diffa lebenden Menschen leiden unter der Gewalt islamistischer Gruppen. hörden und humanitären Helfer*innen betriebene Aufnahmestellen für Binnenvertriebene befinden, gibt es Hunderte von Notunterkünften, meist Strohhütten und Zelte aus Planen.

In der kleinen Hütte, in der Mahamadou Zakari mit seiner Familie zusammengedrängt lebt, herrscht noch immer die Angst, dass auch hier Mitglieder von Boko Haram auftauchen könnten. «Wir leben in Angst. Sie haben vor neun Monaten einen unserer Nachbarn aus dem Lager entführt, dann haben sie den Chef des Dorfes nebenan gekidnappt», sagt er. Entführungen gegen Lösegeld, gezielte Tötungen, mit selbst gebauten Minen versehene Strassen ... 2019 wurde das Büro der Organisation Médecins Sans Frontières in Maïné-Soroa von bewaffneten Männern angegriffen. Zwischen Juli und Dezember 2023 wurden mehr als 23 000 neue Binnenvertriebene aus den am stärksten von der Gewalt betroffenen Gemeinden (N̓ʼGuimi, Bosso, Toumour und Maïné-Soroa) registriert.

Mahamadou Zakari und seine Familie mussten mehrmals flüchten und leben jetzt in einem Auffanglager. © Louise Lascouès

Mahamadou Zakari verliert allmählich die Hoffnung, wieder in seinem Dorf leben zu können. «Die Situation wird immer schlimmer. Letztes Jahr wollte ein Bewohner wieder ins Dorf zurückkehren, er wurde von den Terroristen getötet. Boko Haram besetzt weiterhin unser Dorf», sagt er. Der ehemalige Fischer und Landwirt ist nun auf humanitäre Hilfe angewiesen, um sich zu ernähren. Der Familienvater verdient 500 bis 1000 Naira (weniger als 1 Schweizer Franken), indem er Waren auf die Fahrzeuge von Händler*innen lädt. Das ist weit weniger als die 300 000 Naira (290 Schweizer Franken), die er in seinem alten Dorf für jede Bootsladung von Fischen verdient hatte.

Auch seiner Frau, einer ehemaligen Erdnussverkäuferin, setzt die Lage zu. «Ich habe hier keine Arbeit. Die Kinder müssen drei Kilometer zu Fuss zur Schule gehen, sie sind abends müde und können ihre Lektionen nicht lernen», sagt sie.

Alte Methode wiederentdeckt: Mit dem traditionellen Zai wird der Boden verbessert. © Louise Lascouès

Weniger Ressourcen

Überlastete Wasserpumpen, überfüllte Schulen und Gesundheitszentren, besetzte Felder: Der Zustrom von Menschen, die vor der Gewalt fliehen, erhöht den Druck auf die ohnehin geringen natürlichen Ressourcen und die Infrastruktur in der Region. In Digargo in der Nähe von Diffa hat sich in den letzten Jahren die Bevölkerung verfünffacht. «Früher waren wir 2000 Menschen, wir hatten Felder mit Hirse, Sorghum, Bohnen und vielen Bäumen. Fast alles wurde abgeholzt», sagt Brah Boulama Adjin, der Sohn des Dorfchefs von Digargo. Vor acht Jahren fanden die Geflüchteten in den Höfen der Häuser Zuflucht. Später liessen sie sich aus Platzmangel auf den Feldern nieder, die ihnen von der Bevölkerung überlassen wurden. «Wir mussten einen Ort finden, um sie aufzunehmen. Für uns gehören sie zur Familie, und es ist normal, dass wir ihnen helfen. Doch die Situation wird immer schwieriger, wir haben kaum mehr Platz für den Anbau von Getreide, und ich habe Angst, dass es in Zukunft zu Konflikten kommen könnte», sagt Brah Boulama Adjin.

«Früher war das hier ein Wald, es gab Gazellen und Affen. Das alles ist verschwunden.» Aboukar Bacthouloum, Bauer

Seit den 1960er-Jahren hat der Tschadsee aufgrund von Übernutzung und aufgrund des Klimawandels 90 Prozent seines Volumens eingebüsst. Von der Verlandung der Seeufer, der Versteppung der Böden, unregelmässigen Regenfällen und verheerenden Überschwemmungen sind in erster Linie die Landwirt*innen betroffen. Die Verknappung der natürlichen Ressourcen verschärft die Spannungen zwischen den Gemeinschaften, insbesondere zwischen Viehzüchter*innen und jenen, die Felder bestellen. In Digargo sind die Akazien- und Wüstendattelbäume fast verschwunden. Auf dem Feld, das er von seinen Grosseltern geerbt hat, zeigt Aboukar Bacthouloum auf die ockerfarbenen Dünen am Horizont. «Früher war das hier ein Wald, es gab Gazellen und Affen. Das alles ist verschwunden», sagt er traurig. «Damals war das Land fruchtbar. Meine Grosseltern konnten 50 Säcke mit je fünfzig Kilo Getreide pro Jahr ernten. Ich kämpfe darum, auf zehn Säcke zu kommen», sagt er.

Das Welternährungsprogramm und Unicef haben ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem sie versuchen, den sozialen Zusammenhalt und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken: Die Menschen legen gemeinsam genutzte Gemüsegärten an, pflanzen neue Bäume, verbessern die Qualität geschädigter Böden und bekämpfen die Wanderdünen mit kleinen Umzäunungen. Seit drei Jahren versuchen die vom WFP unterstützten Landwirt*innen, das Land durch «Zai» zu regenerieren, eine traditionelle Technik, bei der Löcher gegraben werden, um Wasser zurückzuhalten, und bei der nur organischer Dung verwendet wird. Das Projekt zeigt Wirkung: «Mein Feld hat sich erholt und meine Erträge haben sich verdoppelt», freut sich Aboukar Bacthouloum. Ausgetrocknetes Land: Mit kleinen Holzbarrieren sollen die Wanderdünen gebremst werden.

In die Pflanzlöcher wird nur organischer Dung geschüttet. © Louise Lascouès

Eine tickende Zeitbombe

Der Extremismus belastet die Wirtschaft der Region Diffa beim Tschadsee, die einst dank dem Handel mit Fisch und Paprikaschoten florierte. Die Bewohner*innen leben seit 2015 im Ausnahmezustand: Die Behörden haben eine Ausgangssperre verhängt, Motorräder verboten und Märkte schliessen lassen, um die Einnahmequellen der extremistischen Gruppierungen auszutrocknen. Nach den ersten Angriffen ordneten sie ausserdem die Evakuierung der Inseln im Tschadsee an, wodurch viele Fischer*innen ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden. Es wurde ein Plan für die freiwillige Rückkehr bis 2021 eingeführt, doch die Angst bleibt. Viele Menschen haben keinen Zugang mehr zu ihren Feldern, während in Diffa der Mangel an Arbeitsplätzen einen Teil der Jugend in die Kriminalität treibt. «Wir sehen eine beunruhigende Entwicklung: Gangs von Arbeitslosen, die Drogen nehmen und stehlen und von denen einige beginnen, sich Boko Haram anzuschliessen. Das ist eine tickende Zeitbombe», warnt ein lokaler Behördenvertreter.

Nach dem Staatsstreich im Sommer letzten Jahres hat die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten Sanktionen verhängt, um die Putschist*innen zum Einlenken zu bewegen. Die Grenzen wurden geschlossen, Handelsgeschäfte ausgesetzt und das Staatsvermögen eingefroren. Die Sanktionen ersticken den Niger zunehmend, in dem fast 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben und weniger als zwei Schweizer Franken pro Tag erhalten. Die Stromversorgung, die zu 70 Prozent aus Nigeria stammt, fällt täglich aus, es gibt immer mehr Engpässe bei Medikamenten und Bargeld, die Getreidepreise steigen rasant an.

«Die unsichere Lage war schon schwierig genug, aber jetzt ist es für die Menschen sehr hart geworden. Der Preis für einen Sack Reis hat sich fast verdreifacht, Familien müssen Tage ohne Essen verbringen», berichtete ein Journalist in Diffa. Die Nachrichten über den Sturz von Präsident Mohamed Bazoum durch das Militär Ende Juli in der über 1300 Kilometer entfernten Hauptstadt Niamey machten dem jungen Mann – der es vorzieht, sich anonym zu äussern, nachdem er unter Druck gesetzt wurde – grosse Sorgen: «Der jüngste Staatsstreich löst in Niger keine Probleme, im Gegenteil, die Angriffe gehen weiter. Jetzt, da die hohen Militärs in Niamey herrschen, befürchte ich, dass dadurch hier ein Vakuum entsteht, eine Zone, die für Extremist*innen vorteilhaft ist. Und ich fürchte, dass die Armut ihre Reihen auffüllt.»

 

*Die Arbeit für ein ausländisches Medium in der Sahelzone ist mit erheblichen Sicherheitsrisiken für die Journalist*innen verbunden. Aus diesem Grund wurde diese Reportage unter einem Pseudonym verfasst.