Innerhalb von zwei Jahren kam es in Mali, Guinea, Burkina Faso und Niger zum Putsch gegen deren Regierungen. In der Sahelzone gibt es zahlreiche dschihadistischen Gruppen, von Boko Haram in Nigeria über Katiba Macina in Mali bis hin zu verschiedenen Fraktionen, die mit dem Islamischen Staat (IS) oder Al-Qaida verbündet sind. Frankreich versuchte fast zehn Jahre lang den Polizisten in der Region zu spielen, musste dann aber abziehen, ohne den Extremismus eingedämmt zu haben. Die Bevölkerung leidet unter der Gewalt aller Seiten.
AMNESTY: Wie lässt sich diese Welle von Staatsstreichen in den vier Ländern erklären?
Yvan Guichaoua: Die Häufung der Ereignisse ist schon beunruhigend, aber dennoch hat jeder Staatsstreich seine eigene Geschichte. Dennoch ist diesen drei Ländern - Mali, Niger und Burkina Faso - gemeinsam, dass sie einem grossen Druck von dschihadistischen Gruppen ausgesetzt waren. Mit ähnlichen Ursachen: Umstrittene Regierungen waren in einem offenen Konflikt mit jihadistischen Gruppen, hinzu kam die misslungene militärische Unterstützung aus dem Ausland. Oder anders ausgedrückt: Ein doppeltes Scheitern von Intervention und Staatsversagen der lokalen Regimerungen.
Kaum hatten die Putschist*innen in den drei Ländern die Macht übernommen, traten sie aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) aus, lehnten westliche Hilfe zugunsten von Bündnissen mit Russland ab und legten ihre militärischen Mittel zusammen. Diese Entscheidungen gehen auch mit einer härteren Innenpolitik einher, mit Repressionen gegen die Opposition und gegen die Presse.
Frankreich zog seine letzten Truppen 2022 aus Mali und im Dezember 2023 aus Niger ab. Inwiefern beeinflusste dies die Instabilität in der Region?
Cécile Petitdemange: Die Länder, in denen die Barkhane-Truppen eingesetzt wurden, waren schon vorher instabil. Die französische Militärintervention hat keine Stabilität gebracht. Im Gegenteil, sie hat die dschihadistische Spirale der Gewalt zwischen den Gemeinschaften genährt. Mit Unterstützung der Truppen der französischen Barkhane-Operation haben die lokalen Armeen unzählige Übergriffe begangen. Die französische Intervention als Erfolgsgeschichte zu betrachten, würde heissen, auf die Version des Élysée-Palastes hereinzufallen.
Yvan Guichaoua: Wenn man den Zahlen des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED) Glauben schenken darf, hat sich die Sicherheitslage seit der Machtübernahme durch das Militär und dem Abzug von Barkhane aus Mali und Niger nicht verbessert. Im Dreiländereck Mali, Burkina Faso, Niger übernahm der IS die Macht. Das musste die Zivilbevölkerung auf katastrophale Weise mit Massenvertreibungen und zahlreichen Opfern bezahlen.
Auf der anderen Seite ignorieren auch die neuen Juntas bewusst die Regeln des humanitären Völkerrechts und wenden uneingeschränkt Gewalt an. Sie sehen sowohl sezessionistische Gruppen wie auch Dschihadist*innen als Feinde – sie werfen alle in einen Topf. Zivilpersonen, die nicht flüchten können, stecken in der Falle und werden ebenfalls zur Zielscheibe der Regierungstruppen. In Burkina Faso sagen die Behörden sogar: «Wer sich in dschihadistischem Gebieten aufhält, ist Komplize und somit ein legitimes Ziel». In Mali ist die offizielle Rhetorik nicht so drastisch, aber es gibt Beweise für Übergriffe der Regierungstruppen mit Unterstützung der Wagner-Truppen – den russischen Söldnern, die sich seit dem Verschwinden von Jewgeni Prigoschins «Africa Corps» nennen.
Warum ist die französische Militärintervention gescheitert?
Cécile Petitdemange: Auf die Köpfe einzelner Dschihadisten zu zielen, funktioniert nicht. Die dschihadistischen Gruppierungen sind wie ein tiefes unterirdisches Pflanzengeflecht. Wird ein sichtbarer Kopf des Netzwerks an einer Stelle abgeschnitten, wächst an einer anderen Stelle ein neuer nach – noch gefährlicher als der vorherige, weil seine Wut über die Tötung seines Vorgängers dazukommt.
Dies sich bereits 2020 als unwirksam erwiesen, nachdem Präsident Macron auf dem Gipfel in Pau stur auf dieser kriegerischen Logik beharrte und erklärte, er wolle die Mittel für die französische Operation aufstocken.
Wie lassen sich die verschiedenen dschihadistischen Gruppen voneinander unterscheiden?
Yvan Guichaoua: Die Rekrutierungsweise der in Mali, Burkina Faso und im östlichen Niger agierenden «Groupe de soutien à l'islam et aux musulmans (JNIM)» will zwar wie die anderen Gruppen letztendlich ein grosses Kalifat errichten. Doch sie arbeitet nach dem System von al-Qaida; das heisst, sie versucht sich zunächst mit dem lokalen Umfeld zu arrangieren. Sie hat dezentralisierte Strukturen, unterstehen aber alle demselben "grossen Boss": Iyad Ag Ghali. JNIM zerstört lokale Strukturen nur, wenn es Widerstand gibt.
Die Gruppe Islamischer Staat verfolgt eine weitaus radikalere Strategie: Wer dem IS nicht die Treue schwört, wird liquidiert – darunter Lehrpersonen, staatliche Akteur*innen, Zivilpersonen und Stammesführer*innen. Wie im Nahen Osten räumen sie mit den bestehenden Autoritäten auf und vertreiben die Bevölkerung. Sobald sie ihre Macht installiert haben, strecken sie den Menschen die Hand aus und bieten eine Rückkehr an, allerdings zu ihren neuen Bedingungen.
Cécile Petitdemange: Boko Haram wiederum hat Schwierigkeiten, in Niger Fuss zu fassen. Einerseits, weil es im restlichen Land eine starke militärische Präsenz gibt. Vor allem aber, weil sich die religiösen Praktiken, die die Gruppe zu etablieren versucht, zu sehr von denen der Bevölkerung unterscheiden. Die Miliz bleibt daher auf die Gegend um den Tschadsee beschränkt, da die Armut in der Region es ihr ermöglicht, mit dem Versprechen von Jobaussichten und anderen Vorteilen zu rekrutieren.
Die dschihadistische Bewegungen nutzen Spaltungen und soziale Brüche der Gesellschaft aus. Nicht überall finden sie Menschen, die den Staat hassen oder die sich ihren Reihen anschliessen, um ihre wirtschaftliche Not zu überwinden. Doch diese Bewegungen gehen sehr vorsichtig und geduldig vor. Sie suchen sich bewusst Gebiete, in welchen es Handel und Märkte für Fische und Vieh gibt – wie eben in der Region des Tschadsees. Oder sie gehen in die Gegend der handwerklich betriebenen Minen in Burkina Faso.
In Zentralmali stützten sie sich auf den Unmut der Hirtengemeinschaften, die sich nicht leisten können, Eigentümer ihrer Herden zu werden, oder vereinbarten mit Wilderern in den Naturschutzgebieten. Im Allgemeinen halten sie sich eher in ländlichen Regionen auf, wie im Niger in der Region Tilabéri, die nur 50 Kilometer von Niamey entfernt liegt. Selbst die Menschen vor Ort fragen sich, warum die Hauptstadt von ihren Angriffen verschont bleibt.
Wie gelingt es extremistischen Gruppen, zu rekrutieren?
Cécile Petitdemange: Wenn nicht aus wirtschaftlicher Not, dann greifen die Menschen oft aus reiner Selbstverteidigung zu Waffe. Oder sie wollen sich für Diskriminierungen rächen. Dies gilt beispielsweise für die Gemeinschaft der Fulbe, die sich wegen ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung radikalisiert haben. Auch anderen Teile der Bevölkerung wollen sich so gegen die Angriffe der Armee, die diese im Namen des «Kampfes gegen den Terrorismus» ausführt, verteidigen.
Oft gibt es also kein religiöses Motiv: Man schliesst sich in der Not den Gruppen an, die die Waffen haben, organisiert sind oder über Geldmittel verfügen. Aus denselben Gründen werden auch reuige ehemalige Kämpfer wieder «rückfällig».
Yvan Guichaoua: Viele Menschen entscheiden sich dafür, sich den Dschihadisten anzuschliessen, weil sie Willkür erfahren haben. Staatsbedienstete sind nicht sehr beliebt, Erpressung zum Beispiel ist bei den Sicherheitskräften fast schon die Norm. Wenn der Machtmissbrauch durch die Sicherheitskräfte ein bestimmtes Ausmass überschreitet, wird die Anziehungskraft der Jihadistinnen enorm: Sich ihnen anzuschliessen, bedeutet dann, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Ich habe Aussagen von Menschen in Mali gesammelt, die unter den Dschihadist*innen gelebt haben und deren Form von Gerechtigkeit lobten: Bei ihnen würden alle gleich behandelt: «Ob reich oder arm, du kannst auf die gleiche Weise verurteilt werden.»
Warum gelingt es nicht, in einen friedlichen Dialog zu treten?
Cécile Petitdemange: Dazu wäre es unerlässlich, mit allen Menschen zu sprechen und nicht den einen oder anderen Teil der Bevölkerung zu stigmatisieren. Um die Gründe und die Dynamiken hinter den dschihadistischen Bewegungen zu verstehen, muss man die Tür zum Dialog öffnen.
Die Behörden im Tschad reagieren auf katastrophale Weise. Nicht nur reagieren sie in erster Linie militärisch, sie versuchen ausserdem, das Land zu entradikalisieren, indem sie sich das Recht nehmen zwischen «guten» und «schlechten» Muslim*innen zu unterscheiden. Ein Unterfangen, das ebenso unmöglich wie ungeschickt ist, da es die Menschen gegeneinander ausspielt.
Der Kampf gegen den Dschihadismus ist für die Machthaber ausserdem eine Einnahmequelle: Der de-facto-Präsident des Tschads, General Mahamat Idriss Déby, spielt sich als «Polizist der Sahelzone» auf und baggert damit internationale Gelder zur Terrorismusbekämpfung an. So versucht er auch, seine Position als Präsident des Tschad zu legitimieren. Es gibt schlicht keine eine auf Dialog basierende Strategie.
Yvan Guichaoua: Nach den Staatsstreichen gibt es keinen Dialog zwischen den Militärs und den Islamist*innen. Mit den «Terroristen» Gespräche zu führen, würde als Zugeständnis gelten. Die Militärs behaupten also, nur mit Gewalt reagieren zu können. Sie setzen massiv Drohnen aus türkischer Produktion ein, um zuzuschlagen. Indem sie dies in den Medien zeigen, dass sie es tun - mit der Absicht, die Bevölkerung zu galvanisieren. Sie versuchen ihre fragile Macht durch Propaganda aufrechtzuerhalten.
Zivilpersonen sind häufig das Ziel von Angriffen. Wie ist die Lage der Frauen in dieser Situation?
Yvan Guichaoua: Im Dreiländereck haben die Dschihadistengruppen eine regelrechte Heiratswirtschaft aufgebaut. In Niger entführen sie Frauen und Mädchen, verheiraten sie zwangsweise mit Kämpfern und nutzen die eheliche Bindung, um Druck auf das Umfeld der Frauen auszuüben und das Schweigen ihrer Familien zu erkaufen.
In anderen Fällen liquidieren die Mitglieder der JNIM oder des IS eigens die Ehemänner, um Witwen zu «schaffen», die dann wieder mit ihren Kämpfern verheiratet werden.
In Zentralmali haben die Dschihadistengruppen den Preis für die Mitgift in den von ihnen kontrollierten Gebieten gesenkt. Junge Männer, die zuvor aufgrund fehlender Mittel nicht heiraten konnten, konnten dies aufgrund der von den Dschihadisten erzwungenen «Preisregulierung» nun tun. Eine weitere Möglichkeit, sich die Unterstützung dieser jungen Menschen zu sichern.
Frauen spielen aber nicht unbedingt immer eine passive oder friedensstiftende Rolle. Die amerikanische Forscherin Hillary Matfess hat insbesondere über jene von Boko Haram entführten und später freigelassenen Mädchen gearbeitet, die erklärten, dass sie versucht seien, zu ihrem «Ehemann» innerhalb der Organisation Boko Haram zurückzukehren.
Cécile Petitdemange: Wie auch in anderen Kontexten sind Frauen die am stärksten gefährdete soziale Gruppe, da sie weniger Zugang zu wirtschaftlichen Netzwerken haben. In Gefahr sind sie insbesondere auch, wenn sie allein mit ihren Kindern unterwegs oder in Flüchtlingslagern sind. Auch die Daheimgebliebenen sind in Gefahr, wenn der Ehemann getötet wurde oder sich den Dschihadisten angeschlossen hat. Dazu kommt die sexuelle Gewalt, der sie oft ausgesetzt sind.
Generell sind die Zivilist*innen in Westafrika einer Politik des Terrors ausgesetzt. Es gibt Rachefeldzüge gegen ehemaligen Barkhane-Kollaborateur*innen. Die französische Armee hat nichts getan, um ihre Geheimdienstquellen zu schützen, die nun den Gegenschlag zu spüren bekommen. Die gesamte Region ist in eine Guerillalogik verfallen, die endlose Rache und Vergeltung mit sich bringt.