Ex-General Abdullahi Ishaq in einem Deradikalisierungslager. © Betina Rühl
Ex-General Abdullahi Ishaq in einem Deradikalisierungslager. © Betina Rühl

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2024 – Konflikte im Sahel Schwieriger Ausstieg

Von Bettina Rühl. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2024.
Aus Wut auf die Regierung schloss sich Abdu Kasim der extremistischen Gruppierung Boko Haram an. Doch dann bröckelte seine Überzeugung. Er wollte aussteigen – doch der Weg zurück in den Alltag ist steinig.

Die Wut in der Stimme von Abdu Kasim1 ist unüberhörbar. Es ist die Wut auf das, was ihm die nigerianische Regierung seiner Darstellung nach vor zwölf Jahren angetan hat. Der nigerianische Zoll habe damals seinen LKW beschlagnahmt, obwohl er nur innerhalb Nigerias unterwegs war. «Fünf Monate lang habe ich alles versucht, um mein Fahrzeug freizubekommen», sagt Kasim. Vergeblich, am Ende hörte er nur noch, sein LKW sei für eine Million Naira (rund 960 Schweizer Franken) versteigert worden.

Was Kasim erzählt, ist mit vernünftigem Aufwand nicht zu überprüfen, plausibel ist es im nigerianischen Kontext durchaus. Mit seinem LKW verlor der Familienvater seine Lebensgrundlage, für einen Neuanfang fehlte ihm das Startkapital. Aus Zorn, aus wirtschaftlicher Not und weil er keinen anderen Ausweg wusste, schloss er sich der extremistischen Rebellengruppe Boko Haram an, die in Nigeria immer wieder schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht. «Ich wollte mich an der Regierung rächen und ihr grösstmöglichen Schaden zufügen», sagt Abdu Kasim.

Für Kasim führte dieses eine Erfahrung dazu, dass er sich radikalisierte. Dies ist keine Seltenheit. Laut einer Studie über Rekrutierung und Ausstieg von extremistischen Gruppierungen, die das Uno-Entwicklungsprogramm UNDP Anfang 2023 veröffentlichte, gaben fast die Hälfte der 2200 Interviewten an, sie hätten sich aufgrund eines Schlüsselerlebnisses radikalisiert und einer extremistischen Gruppe angeschlossen. Für gut 70 Prozent von ihnen bestand dieser «Auslöser» in schweren Menschenrechtsverletzungen durch Regierungs- oder Armeeangehörige. Besonders häufig wurde dabei die Tötung oder die Verhaftung eines Familienmitglieds oder von Freund*innen genannt. Laut der Studie scheinen «staatliche Massnahmen, die mit einer starken Eskalation von Menschenrechtsverletzungen einhergehen, der wichtigste Faktor zu sein, der Einzelpersonen in Afrika in gewalttätige, extremistische Gruppen treibt.»

Dagegen nannten nur 17 Prozent der Befragten ihre religiöse Überzeugung als wichtige Motivation dafür, sich einer extremistischen Gruppierung anzuschliessen. Ein Viertel aller befragten Männer sagten, sie hätten sich der extremistischen Gruppe in der Hoffnung auf Arbeitsmöglichkeiten angeschlossen. Extremistische Gruppen werben oft damit, ihren Mitgliedern eine Art Sold zu zahlen – ein Versprechen, das meist nicht eingelöst wird.

Ein ehemaliges Boko-Haram-Mitglied in einem Wiedereingliederungszentrum in Nigeria. © Michael Zumstein / Keystone / Agence VU

Zweifel an Boko Haram

Als Kasim sich Boko Haram anschloss, war er völlig überzeugt von deren Mission, die Scharia in ganz Nigeria einzuführen. Bei Boko Haram liess er sich nach der militärischen Grundausbildung zum Sprengstoffexperten ausbilden. «Ich wollte so viel Zerstörung wie möglich anrichten», sagt Abdu Kasim. Seine «Brigade» zielte vor allem auf Armeeangehörige, platzierte Sprengsätze auf Strassen, wenn sie wusste, dass ein Militärkonvoi vorbeifahren würde. Auch Kasernen und andere militärische Ziele standen in ihrem Fokus – aber nicht nur.

An der Massenentführung von 276 Schülerinnen aus einer staatlichen Schule in Chibok im Jahr 2014 habe er sich zwar nicht persönlich beteiligt, sagt Kasim, aber er habe breitwillig Männer aus seiner Einheit zur Verfügung gestellt, «um die Regierung zu provozieren». Das Leid der Mädchen und ihrer Familien nahmen er und seine Mitstreiter in Kauf, um die Regierung blosszustellen und zu beschämen, weil sie die Kinder nicht schützen konnte. Nigerianischen Medien zufolge waren im Dezember 2023 immer noch rund Hundert Schülerinnen in der Gewalt von Boko Haram – fast zehn Jahre nach ihrer Entführung.

«Wir konnten das Elend derjenigen immer weniger übersehen, die vor der Gewalt aus ihren Dörfern fliehen mussten.» Kasim, ehemaliger Boko-Haram-Kämpfer

Auch wenn Kasim zunächst keine Probleme damit hatte, in seinem Kampf gegen Armee und Regierung auch Zivilist*innen zu treffen, seien ihm mit der Zeit Zweifel gekommen, ob die hohe Zahl der zivilen Opfer mit dem wahren Islam zu vereinbaren sei. «Wir konnten das Elend derjenigen immer weniger übersehen, die vor der Gewalt aus ihren Dörfern fliehen mussten. Frauen und Kinder hatten nach ihrer Flucht nichts zu essen und keinen Platz zum Schlafen.» Als er 2021 von einem Amnestieprogramm der Regierung des Bundesstaats Borno im Norden Nigerias hörte, entschloss sich Kasim zum Ausstieg.

Neue Ansätze gegen Extremismus

Die Regierung des Bundesstaates Borno, dem Epizentrum der Gewalt von Boko Haram, will ehemaligen Mitgliedern die Rückkehr in das zivile Leben vereinfachen: Sie hat im Juli 2021 ein Aussteigerprogramm eingeführt, das ehemaligen Mitgliedern Straffreiheit verspricht, wenn sie sich von der Gruppe lossagen, ihre Waffen oder Sprengstoff abgeben und ein Deradikalisierungsprogramm durchlaufen. Psychologische Unterstützung gehört nicht zum Angebot, dafür aber eine finanzielle Starthilfe für einen Neuanfang ausserhalb der Fänge von Boko Haram.

Der Kopf hinter dem Modell von Borno ist Abdullahi Ishaq. Der ehemalige Brigadegeneral wurde 2021 vom Gouverneur des Bundesstaates Borno, Babagana Zulum, zu seinem speziellen Berater in Sicherheitsfragen ernannt. Nach Jahren des Kriegs gegen Boko Haram ist Ishaq vom Scheitern der militärischen Strategie der Regierung im Kampf gegen den Terrorismus überzeugt: «Mal erklärte die Armee einen Sieg, mal Boko Haram. So ging das immer weiter, während mehr und mehr Menschen starben und die Felder nicht mehr bestellt werden konnten, weil immer mehr Bäuer*innen fliehen mussten.»

Seit dem Beginn des Programms hätten sich schon 140 000 Menschen ergeben, sagt Ishaq. Dabei sind allerdings die Familienmitglieder mitgezählt, die üblicherweise mit den Kämpfer*innen leben. Die Teilnehmer*innen des Programms hätten nach einigen Monaten der Deradikalisierung ein Starterpaket bekommen, um ihren Lebensunterhalt im Alltag verdienen zu können, beispielsweise als Bäuer*innen.

Die Sicherheitslage in Borno und vor allem in der Hauptstadt Maiduguri hat sich drastisch verbessert, seit das Aussteigerprogramm im Juli 2021 begann. Der offensichtliche Erfolg des Ansatzes deckt sich mit den Beobachtungen der Studie des Uno-Entwicklungsprogramms UNDP: Der rein militärische Anti-Terror-Ansatz habe seine Grenzen in den vergangenen Jahren deutlich gezeigt, heisst es dort. Demgegenüber motivierten Amnestieprogramme viele Kämpfer*innen zum Ausstieg, besonders wenn sie ohnehin an der Ideologie der Gruppe zweifelten oder von der Miliz enttäuscht seien.

Kasim fühlt sich allerdings nicht nur von der Miliz enttäuscht, sondern einmal mehr auch von der Regierung: Die versprochene Entschädigung für den Sprengstoff, den er abgab, habe er nicht bekommen. Nun fehle ihm das Geld, um einen Laden für KFZ-Ersatzteile zu eröffnen. Abdu Kasim würde sich gerne künftig seinen Lebensunterhalt als Verkäufer verdienen. Doch bis dahin scheint es noch ein langer Weg.