Sie kamen in der Dunkelheit. 275 Schülerinnen bereiteten sich am Abend des 14. April 2014 in der Sekundarschule des Dorfes Chibok im nigerianischen Bundesstaat Borno auf ihre Prüfungen vor, als Kämpfer von Boko Haram in das Gebäude eindrangen. Sie gaben sich als Sicherheitspersonal aus und sagten, sie würden für den Schutz der Mädchen sorgen. Die Schülerinnen folgten verängstigt und wurden auf Lastwagen gepfercht. Doch sie wurden nicht in Sicherheit gebracht, sondern in eine Basis der extremistischen Gruppierung Boko Haram im Sambisa-Wald an der Grenze zu Kamerun. 47 Mädchen gelang es, von den Lastern abzuspringen und sich im Gebüsch zu verstecken. Andere kamen in den kommenden zwei Jahren in Austauschaktionen frei. Doch bis heute – 10 Jahre nach dem schwarzen Tag in der Geschichte Nigerias – bleiben noch immer rund Hundert Mädchen verschwunden.
Für die Mädchen, die zu ihren Familien zurückkehren, ist die Welt eine andere. Viele haben in den Händen von Boko Haram Gewalt und Missbrauch erlebt. Einige, die zurückkehrten, hatten inzwischen Kinder geboren. So Rejoice Senki, eine der befreiten Geiseln. Sie erzählte gegenüber der Zeitung taz, wie sie in der Gewalt von Boko Haram mehrfach vergewaltigt, dann zwangsverheiratet und zum Islam zwangskonvertiert wurde. «Sie machen mit dir, was sie wollen», sagte sie.
Nicht alle der freigekommenen
Mädchen kehren in die Arme ihrer Eltern zurück: Mehrere Mädchen sollen in der Geiselhaft gestorben sein – einige als Selbstmordattentäterinnen. Tatsächlich hat Boko Haram nach dem 14. April 2014 begonnen, Frauen systematisch für Anschläge zu benutzen – freiwillig oder unter Zwang. Laut der Denkfabrik Council of Foreign Relations wurden zwischen 2014 und 2018 mehr als 450 Frauen und Mädchen eingesetzt, bislang wurden rund zwei Drittel der Anschläge von Boko Haram von Frauen durchgeführt. Laut der International Crisis Groups wurden gerade die jüngeren Frauen zu den Anschlägen gezwungen und dafür teils unter Drogen gesetzt. Boko Haram hält den Einsatz von Frauen für taktisch effizient und pragmatisch, da so männliche Kämpfer für wichtigere Einsätze «geschont» werden.
Relevante Akteur*innen in der Prävention
Der Fall von Chibok zeigt: Unter der Ausbreitung extremistischer und islamistischer Gruppierungen in der Sahelzone leiden im Besonderen die Frauen. Erste Anzeichen sind Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Frauen, neue Einschränkungen ihrer Mobilität und Kleidervorschriften, der Ausschluss aus Bildungsinstitutionen und Ämtern oder die Befürwortung von Kinderehen. Solche Beschneidungen von Frauenrechten sollten den Behörden Anlass zur Sorge geben – und auch präventive Massnahmen zur Folge haben.
«Trotz der wichtigen Rolle, die Frauen bei der Verhinderung von Extremismus spielen können, werden sie nur selten als relevante Partner*innen angesehen.» Nicoletta Barbera, Programmverantwortliche für Afrika beim United States Institute of Peace (USIP)
«Frauen werden meist noch sehr wenig in die Debatten über die Bekämpfung von extremistischer Gewalt einbezogen; diese sind geprägt von militärischen Überlegungen», sagt Nicoletta Barbera, Programmverantwortliche für Afrika beim United States Institute of Peace (USIP). Neben militärischen Interventionen, die sich besonders im Sahel oft als kontraproduktiv erwiesen haben, konzentrieren sich die Bemühungen von Regierungen zur Bekämpfung der Radikalisierung in der Regel darauf, mit den überwiegend männlichen politischen und religiösen Anführern zu sprechen. Lokale sozialpolitische Faktoren wie Spannungen über den Zugang zu Land und natürlichen Ressourcen, Korruption oder Armut werden dabei kaum mitgedacht, obwohl extremistische Gruppierungen diese Missstände oft erfolgreich für ihre Rekrutierung instrumentalisieren.
«Trotz der wichtigen Rolle, die Frauen bei der Verhinderung von Extremismus spielen können, werden sie nur selten als relevante Partner*innen angesehen», sagt Barbera, die bei USIP ein Programm leitet, welches seit 2013 mit vom Extremismus betroffenen Frauen in Nigeria arbeitet und seit 2020 auch in Niger, Burkina Faso und Mali aktiv ist. Frauen wären in ihren Familien und Gemeinschaften oft gut positioniert, um extremistische Narrative im sozialen Umfeld zu bekämpfen. Besonders einflussreich seien insbesondere Mütter bei Jugendlichen, die oft besonders anfällig für Rekrutierungen sind.
Wie wichtig der Einbezug der besonderen Perspektiven von Frauen für eine bessere Informationsbeschaffung und gezieltere Reaktionen auf potenzielle Sicherheitsbedrohungen ist, bekräftigte eine globale Studie der Uno aus dem Jahr 2015: «Frauen müssen auf allen Ebenen eingebunden werden, und es muss Frauen vor Ort ermöglicht werden, ihre Prioritäten und Strategien zur Bekämpfung des Extremismus autonom festzulegen», heisst es da.
«Unser Ziel ist es, Frauen zu wichtigen Akteur*innen in der Sicherheitspolitik zu machen», sagt Nicoletta Barbera. Das Programm der USIP zielt einerseits darauf ab, ein Netzwerk von Frauen aufzubauen, die bei den lokalen Sicherheitsbehörden für ihre Gemeinschaften einstehen. Zudem vermittelt USIP in Partnerschaft mit lokalen Frauenorganisationen Strategien zur Deradikalisierung. «Oft erkennen die Frauen die Anzeichen einer Radikalisierung sehr rasch. Wir bestärken sie darin dass ihre Beobachtungen richtig sind», sagt Barbera. Im direkten Kontakt mit extremismusgefährdeten Personen sei es wichtig, diese nicht auszuschliessen, sondern ihnen einen sicheren Rahmen zu geben, um über ihre Gefühle zu sprechen. «Die Frauen werden ebenfalls ermutigt, mit den lokalen Behörden Alternativen zu harten Massnahmen wie präventiven Haftstrafen zu suchen.»
Solche Projekte zeigen erste Erfolge: So fanden dank des Programms von USIP im Januar 2023 erste Gespräche zwischen dem NGO-Netzwerk COPEV (Coalition des ONG de Prévention de lʼExtrémisme Violent) und der Regierung von Mali statt. Zusammen soll eine Strategie zur Prävention von extremistischer Gewalt entwickelt werden.
Prävention dank Wissen
Bildung ist ein wichtiger Faktor in der Stärkung der Rolle der Frauen: Der Global Community Engagement and Resilience Fund (GCERF), ein globaler Fonds zur Prävention von gewalttätigem Extremismus, finanzierte mehrere Projekte in der Sahelzone, unter anderem in Mali, Burkina Faso oder in Niger. In Mali nahmen bis August 2023 10 338 Frauen an den Schulungen zur Prävention von gewalttätigem Extremismus und Konflikten teil. Mehrere Frauen waren auch an der Entwicklung von 297 Radiosendungen beteiligt, die in Mali und Burkina Faso auf das Problem der Radikalisierung aufmerksam machten und Alternativen aufzeigten. In Nigeria startete die NGO Women Without Borders 2015 das Projekt «Mother Schools», welches Frauen darüber aufklärt, wie Radikalisierung erkannt und verhindert werden kann und wie sie in ihren Gemeinschaften Friedensprozesse voranbringen können.
Auch die psychologische Betreuung ist wichtig: Die von der Psychologin Fatima Akilu gegründete Neem Foundation hilft ehemaligen Kämpfern und Frauen in Nigeria, die dem Extremismus entkamen, bei der Wiedereingliederung. Mit ihrem Programm betreut sie monatlich rund 1250 Personen, darunter auch Opfer von Entführungen und Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt – wie etwa die Mädchen von Chibok.
Zwei der jungen Frauen, die am 14. April 2014 vom Lastwagen sprangen und Boko Haram entkamen, wollen sich aktiv für mehr Frauenrechte und gegen die Radikalisierung einsetzen: Joy Bishara und Lydia Pogu haben vor zwei Jahren ihr Studium in den USA abgeschlossen. Bishara möchte in Chibok eine Hilfsorganisation gründen. Pogu möchte Menschenrechtsanwältin werden, «um den Menschen und den Chibok-Mädchen Gerechtigkeit zu verschaffen», wie sie dem «People»-Magazin gegenüber sagte. «Boko Haram darf nicht länger bestimmen, wie Frauen zu leben haben. Frauen sollten selbst entscheiden können, wie ihr Leben aussieht.»