Mit der NGO Combatants for Peace engagieren sich Menschen von beiden Konfliktparteien und riskieren dabei Ablehnung in der eigenen Gesellschaft.
Mit der NGO Combatants for Peace engagieren sich Menschen von beiden Konfliktparteien und riskieren dabei Ablehnung in der eigenen Gesellschaft.

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN März 2024 Israel - Palästina Zusammenarbeit statt Spaltung

Interview von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2024.
Wie gehen Menschen, die sich in Israel, Palästina und in der Schweiz für Frieden einsetzen, mit dem Massaker der Hamas und mit dem Krieg in Gaza um? Wir befragten vier Aktivist*innen, wie sie seither zusammenarbeiten und welche Hoffnung sie haben.
AMNESTY-Magazin sprach mit
Wie erlebten zwei Vertreter*innen der Organisation Combatants for Peace, die sich in Israel und den besetzten Gebieten mit gewaltlosem Widerstand für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzen, den 7. Oktober? Jamil Qassas ist der palästinensische Koordinator, Noa Harell die israelische Koordinatorin und Vorsitzende der Organisation.

AMNESTY: Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?

Jamil Qassas. © Combatants for Peace Jamil Qassas: Ich war bestürzt. Diese grauenvollen Nachrichten kamen völlig unerwartet. Zunächst hörte ich, dass die Mauern, die den Gazastreifen umgeben, mit Bulldozern durchbrochen wurden. Es fühlte sich unwirklich an. Anfangs hatte ich ein befreiendes Gefühl, als ich sah, dass die Leute aus dem Gefängnis ausbrachen, das Gaza für sie bedeutet. Dann kamen die ersten furchtbaren Nachrichten. Ich verstand nicht, was da passierte. Immer mehr schreckliche Details wurden bekannt. Ich schaute die ganze Zeit fern und empfand so viel Schmerz darüber, was da passierte.

Noa Harell: Der 7. Oktober war auch für mich ein völliger Schock. Gefühle wie Angst, Verwirrung, Unglauben und blanker Horror dominierten die ersten Stunden, in denen ich die Berichte verfolgte. Diese Gefühle wichen der Wut und der Frustration, als die Stunden vergingen und keine militärische Hilfe in das Gebiet eilte, um die Nukhba- Einheiten (militärischer Arm der Hamas, Anm. der Redaktion) zu bekämpfen, die ungehindert israelische Bürger*innen auf dem Festival, in den Kibbuzim und den Ortschaften rund um den Gazastreifen massakrierten, folterten, vergewaltigten und entführten. Währenddessen mussten meine Familie und ich immer wieder in den Luftschutzkeller, was an sich schon eine beängstigende Situation war.

War es danach schwierig für Sie, mit Ihren Freund*innen und Kolleg*innen «der anderen Seite» in Kontakt zu treten?


Noa Harell. © Combatants for Peace Noa Harell:
Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Bedürfnis, mich von meinen palästinensischen Freund*innen zu distanzieren. Aber ich brauchte ein paar Tage, um meine Gedanken zu sammeln. Meine erste Sorge galt den israelischen Opfern und ihren Angehörigen, von denen ich einige kannte. Ich verspürte das Bedürfnis, ihnen mein Mitgefühl zu zeigen. Als dieses Mitgefühl von vielen Menschen auf palästinensischer Seite nicht kam, war ich frustriert und verstand nicht, warum sie sich Zeit liessen, um sich mit uns zu solidarisieren. Die Komplexität zeigte sich erst später, nach einigen Wochen. Seitdem haben wir bei Combatants for Peace die schwierige Situation analysiert und versucht, sie zu überwinden. Wir arbeiten immer noch daran.

Jamil Qassas: Ich wusste zunächst nicht, wie ich mit meinen israelischen Freund*innen sprechen könnte, ich habe mich anfangs an niemanden gewandt. Zum ersten Mal war ich als Palästinenser nicht auf der Opferseite. Normalerweise sind es meine israelischen Kolleg*innen, die mich nach Vorfällen trösten. Später trafen wir uns via Zoom und führten ein langes Gespräch darüber, was geschehen war. Wir haben gemeinsam getrauert. Ich konnte spüren, dass die Empathie für die Gefühle der anderen echt war. Aber es bleibt emotional und psychisch eine schwierige Zeit.

Was hat sich seither in Ihrer Arbeit verändert?

Jamil Qassas: In den ersten Tagen waren viele von uns emotional überwältigt. In der Gesellschaft waren die Stimmen, die zu Hass und Rache aufriefen, sehr laut. Aber wir waren uns einig, dass wir unsere Arbeit nicht einstellen dürfen. Dass wir zeigen müssen, dass es einen anderen Weg gibt. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen unsere Angst gemeinsam bekämpfen. Unsere Organisation sieht die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Israelis und Palästinenser*innen: Es gibt Besatzer*innen und Besetzte. Wir versuchen nicht nur, über eine andere Realität zu sprechen, in der beide Parteien gleichberechtigt sind. Wir versuchen auch, dies vorzuleben und durch die Art und Weise zu verkörpern, wie wir miteinander umgehen und wie wir handeln.

Noa Harell: Uns allen ist klar, dass wir unsere Arbeit zur Beendigung der Besatzung nun anpassen müssen. Wir müssen berücksichtigen, was die Angriffe der Hamas und die Tötung so vieler unschuldiger Menschen im Gazastreifen durch die israelische Armee bei beiden Seiten verändert. Eines unserer derzeitigen Ziele ist es, die internationale Gemeinschaft aufzufordern, in diesem Konflikt keine Partei zu ergreifen und Druck auf die politische Führung beider Seiten auszuüben, damit sie sich um eine politische Lösung des Konflikts bemühen.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Lösung des Konflikts? Wo haben Sie Hoffnung?

Jamil Qassas: Seit fast zwei Jahrzehnten kämpfen wir gegen die israelische Besatzung und alle anderen Formen von Gewalt. Leider hat Israel seit dem Osloer Abkommen von 1993 alles in seiner Macht Stehende getan, um die Zweistaatenlösung zu verunmöglichen. Eine Lösung muss aber Sicherheit, Freiheit und Gleichheit für alle beinhalten. Unsere Bewegung besteht seit fast 20 Jahren, hat viele Krisen und Herausforderungen durchgestanden und ist immer noch hier, um darüber zu sprechen. Das gibt mir Hoffnung.

Noa Harell: Das einzige Mittel zur Lösung des Konflikts ist ein politischer Prozess. Es scheint, dass wir gegen alle Widerstände arbeiten. Aber die Tatsache, dass immer mehr Menschen in unseren Gemeinschaften Hoffnung, Sicherheit und Frieden durch gewaltfreie Aktionen suchen, stimmt mich optimistisch.

 


Wie gehen jüdische und palästinensische Menschen in der Schweiz, die sich für einen gerechten Frieden engagieren, mit der Lage in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten um? Shelley Berlowitz, die im Verein Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina (jvjp) aktiv ist, erzählt von den Tagen nach dem Angriff der Hamas – und von ihrer Enttäuschung über die israelische Regierung.
Shelley Berlowitz. © Sabine Rock AMNESTY: Shelley Berlowitz, Sie haben in Israel gelebt, haben dort Familie und Freund*innen. Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?

Ich war fassungslos über die Brutalität des Angriffs. Gleichzeitig war ich unglaublich wütend auf die israelische Regierung, die ihre grundlegende Aufgabe – nämlich die Bürger*innen im Land zu schützen – nicht wahrgenommen hat. Ich habe Verwandte in Israel, die gegenwärtig Militärdienst leisten. Ich habe grosse Angst – dass ihnen etwas passiert, aber auch vor dem, was sie vielleicht gerade tun.

Sie haben auch palästinensische Freund*innen. Gab es einen Moment, in dem Sie sich emotional entsolidarisiert haben?

Nein. Es ist mir zwar bewusst, dass die Hamas in der palästinensischen Gesellschaft nun einen Widerhall findet. Ich habe jedoch nie daran gezweifelt, dass die grosse Mehrheit der Palästinenser*innen und vor allem meine Freund*innen solche Taten nicht gutheissen. Die Gespräche mit ihnen drehen sich momentan vielmehr darüber, wie es ihnen geht und wie sie den Alltag bewältigen.

Haben sich die Gespräche mit Ihrer Familie in Israel geändert? Bestimmt sind nicht alle begeistert von Ihrer Haltung.

Es war schon immer schwierig, mit meiner rechtsgerichteten Verwandtschaft über den Konflikt zu sprechen. Mit meiner Cousine, die zwei Söhne und drei Schwiegersöhne im Militär hat und die in einer Siedlung lebt, rede ich nicht darüber – es ist zu schwierig. Mit einer älteren Verwandten, die in den 80er- Jahren einen Sohn bei einem Attentat verloren hat, konnte ich auch nicht darüber sprechen. Hier hat sich aber offenbar etwas bewegt; sie hat die Regierung bisher unterstützt, doch langsam scheint sie zu realisieren, was diese angerichtet hat.

Wie sind die Gespräche in Ihrem jüdischen Umfeld in der Schweiz?

Ich nehme eine verschärfte Sorge wahr, das Gefühl, dass es so nicht weitergeht. Vor allem je länger diese masslosen Angriffe auf Gaza andauern. Wachsende antiislamische Haltungen erlebe ich in meinem Umfeld weniger. Aber es gibt Leute, die sich in ihrer Meinung bekräftigt sehen, dass man Palästinenser* innen nicht trauen kann und alle Israel zerstören wollen. Diese Verallgemeinerung scheint für einige in Ordnung zu sein, aber umgekehrt würden sie nie «alle Israelis» in einen Topf werfen.

Der Krieg dauert jetzt schon mehrere Monate. Wie fühlen Sie sich?

Meine Wut ist nach wie vor riesig. Die Regierung nimmt keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in Gaza, nimmt Hunger, Krankheiten und Tod in Kauf. Und gleichzeitig bringt sie die gesamte israelische Bevölkerung in Gefahr. Ich verstehe, dass Israel etwas gegen die Hamas unternehmen muss. Doch wenn die Regierung verhindern will, dass so etwas je wieder passiert, dann ist sie auf dem Irrweg. Man kann eine Ideologie nicht mit Waffen töten. Die Bedingungen müssen so verändert werden, dass Hamas keine attraktive Option ist. Israel tut aber schon lange das Gegenteil.

Wo sehen Sie Hoffnung?

Alle Menschen, die für eine Verständigung arbeiten und längst Gegenkonzepte entwickelt haben, müssten nun zusammenkommen und eine Art Gegen-Institution jenseits der israelischen Regierung, jenseits der palästinensischen Autonomiebehörde PNA und der Hamas bilden. In diesem Kriegszustand ist das aber illusorisch. Ich habe wenig Hoffnung, dass in Israel eine Regierung an die Macht kommt, die zu einer gerechten Lösung Hand bietet. Vielleicht setzt sich in der Öffentlichkeit die Erkenntnis durch, dass die bisherige Politik eine Sackgasse ist wie auch die Idee, man könne die Palästinenser*innen durch Abkommen mit den arabischen Staaten austricksen.

Es muss anerkannt werden, dass die Wurzel des Problems darin liegt, dass die eine Seite nationale Rechte hat und ein normales Leben führen kann, während der anderen Seite weder Entwicklung noch Bildung noch Bewegungsfreiheit, geschweige denn ein Staat gewährt wird. Bevor wir von Frieden sprechen können, müssten Bedingungen geschaffen werden, die den Palästinenser*innen das Leben erleichtern und ihnen Würde und Rechte zugestehen.

Der Krieg und die Gewalt erschüttern auch die palästinensisch- schweizerische Friedensaktivistin Shirine Dajani zutiefst. Frieden sei nur möglich, wenn die Palästinenser* innen Freiheit und ihre vollen Rechte erlangte. 
 
Shirine Dajani. © zVg AMNESTY: Shirine Dajani, wie haben Sie den 7. Oktober und die Tage danach erlebt?

Ich war und bin weiterhin sehr betroffen von dieser unsäglichen Gewalt. Ich habe viele jüdische und israelische Freund*innen und trauere mit ihnen um die Opfer des Hamas-Angriffs. Ich hatte auch Angst davor, wie die israelische Regierung darauf reagieren würde und dass die Gewalt weiter eskalieren könnte. Was leider auch geschehen ist.

Wie hat damals ihre Familie reagiert?

Die Dajanis lebten seit Jahrhunderten friedlich mit der jüdischen Bevölkerung im historischen Palästina, bis sie 1948 vertrieben wurden. Meine Familie hat zwar viel Gewalt erlebt, aber Gewalt immer abgelehnt. Natürlich war die Angst um die über zwei Millionen Menschen im Gazastreifen riesig. Ich habe in Gaza Familienangehörige und Freund*innen. So lebt dort meine Patentochter, deren Kind nach mir benannt wurde. Die kleine Shirine wurde von einer israelischen Phosphorbombe schwer verletzt und ist dann unter Qualen gestorben. Das ist so furchtbar, ich finde keine Worte, um diesen Schmerz zu beschreiben. Shirine ist nur eines von Tausenden getöteten Kindern. Die Hälfte der Bevölkerung in Gaza sind Kinder. Dass die internationale Gemeinschaft dies zugelassen hat, tut unglaublich weh. Es wäre ungerecht, in dieser Situation von den Angehörigen in Gaza Mitgefühl für die andere Seite zu erwarten. Aber genau das wird verlangt.

Haben sich jüdische Menschen in der Schweiz von Ihnen distanziert?

Natürlich gibt es hin und wieder Kritik von verschiedenen Seiten, aber das ist nichts Neues. Viel wichtiger finde ich, dass ich jüdische Menschen kennengelernt habe, die das Gespräch suchen. So entstehen Treffen, in denen wir in einem geschützten Raum reden können. Das ist für mich sehr heilsam.

Wie geht ihr in diesen Gesprächen aufeinander zu? Es gibt ja auf beiden Seiten viele Wunden.

Es sind zunächst emotionale Annäherungen – von Mensch zu Mensch. Wir sind uns einig, dass die Politik der Hamas und der gegenwärtigen israelischen Regierung jede Chance auf Frieden beeinträchtigt. Es gibt viele heikle Punkte, die wir offen diskutieren. Warum ist beispielsweise das Recht auf einen eigenen Staat umstritten, wenn es um die Palästinenser* innen geht, während dieses Recht für die Israelis als selbstverständlich akzeptiert wird?

Wie geht es Ihnen jetzt, da die Angriffe auf Gaza schon so viele Tote forderten?

Ich empfinde tiefe Traurigkeit, Wut. Und Verzweiflung. Die Palästinenser*innen leben seit Jahrzehnten unter brutaler militärischer Besatzung. Da macht es mich stolz zu sehen, wie die palästinensische Gesellschaft zusammenhält und immer wieder Wege zum Überleben findet. Auf der anderen Seite bin ich sehr dankbar für die mutigen Menschen in Israel, die gegen die Regierung demonstrieren und sich für Frieden einsetzen – das ist auch in Israel nicht ungefährlich. Am 26. Januar hat das höchste Rechtsorgan der Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof, die Lage in Gaza als katastrophal anerkannt und die israelische Regierung angewiesen, weitere völkermörderische Gewalt zu verhindern. Dieser historische Moment gibt mir Hoffnung, dass sich die Situation ändern könnte.

Welche Perspektiven sehen Sie für einen Frieden?

Ich bin zutiefst besorgt. Neben all den bisherigen Zerstörungen lässt die aktuelle israelische Regierung die Bevölkerung von Gaza nun hungern. Und die Welt schaut einfach zu. Wir brauchen ein sofortiges Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. Und danach? Ohne Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser*innen kann es keinen Frieden geben. Sie haben das Recht, genauso leben zu dürfen wie jeder andere Mensch auf der Welt.