Tommy ist als erstes Schwarzes Kind dazu ausersehen, auf eine bis dahin rein weisse Schule zu gehen. In der titelgebenden Erzählung «Nachbarn» wird der Vorabend des ersten Schultags aus der Perspektive der älteren Schwester erzählt, die sagt: «Ich versuche mir einzureden, dass jemand der Erste sein muss.» Auch in der Nachbarschaft, die in Angst lebt, ist man vorsichtig optimistisch. So meint ein Anwohner: «Hoffentlich macht’s ihm nichts aus, wenn sie ihn anspucken.»
Diane Olivers Geschichten in «Nachbarn » sind in jenem historischen Moment angesiedelt, als Erfolge der Bürgerrechtsbewegung in den USA greifbar wurden: 1954 erklärte das Oberste Gericht der USA in einem Grundsatzurteil getrennte Schulen für weisse und für afroamerikanische Kinder für verfassungswidrig. Die Erzählung vom ersten Schultag von Tommy hat die wahre Geschichte von Ruby Bridges zur Vorlage: Die Sechsjährige wurde im November 1960 von vier US-Marshals in die Grundschule in New Orleans gebracht. Als sie dort ankam, war sie die Einzige im Klassenzimmer. Die weissen Eltern hatten ihre Kinder von der Schule genommen.
Dank dieser Erzählungen erhalten wir einen realistischen Einblick in den Alltag jener Menschen, deren Situation mit dem Ende der Segregation nicht besser wurde. So schildert die Autorin die vergeblichen Versuche einer alleinerziehenden Mutter, ihren Anspruch auf medizinische Behandlung für ihre Kinder zu erhalten. Oder wie eine Gruppe von jungen PoC in einem weissen Personen vorbehaltenen Café abgewiesen wird. Eine Familie hat sich gar in den Wald zurückgezogen und einen drastischen eigenen Umgang mit Rassist*innen entwickelt.
In einer nüchternen Sprache – ein besonderes Lob gilt den Übersetzer*innen – nähert sich Diane Oliver den Protagonist*innen; so sind diese keineswegs alle sympathisch. Fast jede Geschichte schlägt einen etwas anderen Ton an, wählt einen anderen Erzählstil, zeigt eine andere Facette des Talents der jungen Autorin. Manche irritieren, andere empören, aber alle berühren und bewegen, und das nicht nur, weil sie von einer beklemmenden Aktualität sind.
Diane Oliver – geboren 1943 in North Carolina – war eine von zwei Afroamerikaner* in nen, die 1965 in den Writers’ Workshop an der University of Iowa eingeschrieben waren. Nur ein Jahr später starb sie, kurz vor ihrem 23. Geburtstag und kurz vor ihrem Abschlussexamen. Für «Nachbarn» wurde Diane Oliver posthum mit dem Literaturpreis O. Henry Award ausgezeichnet. Von ihrem Werk wurden nur vier Erzählungen zu Lebzeiten veröffentlicht. Zwei weitere kamen nach ihrem Tod heraus, nachdem eine Literaturagentin bei der Schwester Olivers den Nachlass mit weiteren Manuskripten entdeckt hatte.
Von Ruby Bridges wissen wir, dass die Anfeindungen und Angriffe sie nicht zerbrochen haben. Heute gilt sie als Ikone der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Welche harten Schattenseiten der Kampf um Gleichberechtigung hatte, zeigt «Nachbarn» eindringlich auf. Ein Kampf, der noch nicht vorbei ist.