Um die Pressefreiheit ist es nicht gut bestellt. In ihrer am 3. Mai veröffentlichten Rangliste stellt die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) «eine besorgniserregende Verschlechterung der Unterstützung und der Achtung der Medienautonomie» fest. Der Indikator «politischer Kontext» ist eines von fünf Merkmalen, die die Organisation für ihre Bewertung heranzieht. Gerade dieser Indikator hat sich am stärksten verschlechtert, um mehr als sieben Punkte. Länder wie Italien, die USA und Argentinien werden aufgrund der steigenden politischen Einflussnahme in der Rangliste von 2024 um mehrere Plätze zurückgeworfen. Ist die Unabhängigkeit der sogenannten vierten Gewalt also nicht mehr gegeben? Wir sprachen darüber mit Denis Masmejan, Generalsekretär der Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen, und Arnaud Mercier, Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Panthéon-Assas in Paris.
In vielen Ländern der Welt wird die Pressefreiheit von denjenigen bedroht, die sie eigentlich garantieren sollten: den politischen Behörden.
Eine grosse Spannbreite
In vielen Ländern der Welt wird die Pressefreiheit von denjenigen bedroht, die sie eigentlich garantieren sollten: den politischen Behörden. Zunächst denkt man dabei an autoritäre Regimes wie Saudi-Arabien und an den Journalisten Jamal Khashoggi, der wegen seiner zu kritischen Artikel gegen den saudischen Kronprinzen ermordet wurde. Man denkt an Hongkong, wo Massenverhaftungen von Journalist*innen die Übernahme der ehemaligen britischen Kronkolonie durch Peking begleiteten. An Russland, wo spätestens seit der Invasion in der Ukraine die Journalist*innen den Interessen des Kremls dienen oder in Gefahr geraten. Oder man denkt an China: «Seit mehreren Jahren präsentiert sich das Land als Gegenmodell zum westlichen liberalen Modell und schlägt eine neue Definition der Pressefreiheit vor. In Chinas Gefolge stellt eine Reihe von Ländern die Pressefreiheit, wie sie von den Vereinten Nationen definiert ist, infrage», sagt Denis Masmejan.
Im Vergleich mit autoritären Regierungen sind in Demokratien die Eingriffe in die Medienfreiheit «versteckter und gemeiner», sagt Arnaud Mercier, der auch im Westen eine deutliche Verschlechterung beobachtet. So habe sich in Italien die Einflussnahme der Regierungspartei auf die öffentlich- rechtlichen Sender verstärkt, seit Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihr Amt antrat. Im März 2023 stürmte die Polizei die Redaktion der Tageszeitung «Domani», um einen Artikel über den Unterstaatssekretär Claudio Durigo zu beschlagnahmen. Die Beeinflussung der Medien durch die Regierung hat in Italien zwar Tradition, doch sahen sich am 6. Mai 2024 die Journalist*innen des öffentlich-rechtlichen Senders Rai genötigt zu streiken, weil sie befürchten, dass die rechtsextreme Partei Melonis den Sender zu einem «Megafon der Regierung» machen wolle. Eine geplante Reform des Verleumdungsgesetzes in Italien beunruhigt Reporter ohne Grenzen zurzeit besonders: «Die Bestimmungen über Verleumdung sehen vor, dass dieses Vergehen mit einem sechsmonatigen Berufsverbot bestraft werden kann», sagt Denis Masmejan. «Die Reform hat eine abschreckende Wirkung und ist nicht mit der Pressefreiheit vereinbar.»
Auch in Frankreich besteht die Gefahr, dass Gesetzesänderungen die Arbeit von Journalist*innen behindern. So wurden die Gesetze zum Geschäftsgeheimnis verschärft, nachdem die Investigativ-Abteilung von Radio France Verträge zwischen der französischen Armee und einem Lufttransportunternehmen enthüllte. «Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen ist mittlerweile dem Quellenschutz gleichgestellt und ermöglicht es Unternehmen, gegen Journalist*innen strafrechtlich vorzugehen», sagt Arnaud Mercier. «Die Abschaffung der Rundfunkgebühren stellt ebenfalls ein grosses Problem dar, denn damit sind öffentlich-rechtlichen Sender dem politischen Druck ausgesetzt, da sie ihre Finanzierungsgarantien verlieren», ergänzt Denis Masmejan.
Auf dem Weg zur Polarisierung
Populismus, Fake News, Zensur unter dem Deckmantel der Sicherheit oder des Kampfes gegen den Terrorismus – dies alles hat das Image von Medienschaffenden beschädigt. Weit weg sind die Zeiten, als Journalist*innen Respekt entgegengebracht wurde – wie den beiden Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein, die in den 1970er-Jahren den Watergate-Skandal enthüllten und als Helden gefeiert wurden. Watergate leitete jedoch auch den Niedergang des Pluralismus in den amerikanischen Medien ein. «Die drohende Amtsenthebung von Präsident Richard Nixon führte in konservativen Kreisen zu einer kritischen Haltung gegenüber den Medien: Wenn die vierte Gewalt einen Präsidenten zum Rücktritt zwingen kann, muss man ihr die Flügel stutzen, hiess es», sagt Arnaud Mercier. Indem die amerikanische Rechte dem gesamten Berufsstand eine liberale Haltung vorwarf und Journalist*in nen pauschal als «Linke» abstempelte, wurden die Medien zusehends stärker diskreditiert. Ausserdem kauften die Konservativen in den 1980er- und 1990er-Jahren bestehende Titel auf oder investierten in die Gründung neuer Medien wie der «New York Post», eines Boulevardblatts, das der «New York Times» Konkurrenz machen sollte. Auch viele lokale Radiosender gingen in konservative Hände über.
«Hardliner der Rechten glauben, dass sie eine ‹Meinungsschlacht› gegen die Medien führen müssten, die traditionell linke Ideen verbreiten würden.»Arnaud Mercier, Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Panthéon-Assas in Paris
«Das Phänomen ist auch in Europa zu beobachten, wo die Hardliner der Rechten glauben, dass sie eine ‹Meinungsschlacht› gegen die Medien führen müssten, die traditionell linke Ideen verbreiten würden», sagt Arnaud Mercier. Dieser Kampf um die Meinungsführung hat auch in Europa zur Folge, dass die Medien von einer Handvoll Akteur*innen aufgekauft werden, die damit an Einfluss gewinnen wollen. Immer mehr Medienhäuser fokussieren ihre Kernarbeit in der Folge statt auf die Vermittlung von Informationen auf die Meinungsbildung, wodurch sie näher an politische Parteien rücken und ihre Unabhängigkeit ein Stück weit aufgeben. Dieses Phänomen beunruhigt Denis Masmejan: «Die Medienkonzentration ist für die Pressevielfalt sehr bedenklich. Denn so entwickelt sich auch in soliden Demokratien eine Verschiebung von der Information zur Kommunikation.»
Befreiung von wirtschaftlichen Zwängen
Mit dem Aufkommen der digitalen Medien verloren die Printmedien an Bedeutung: Ihre Auflage ist rückläufig, die Werbeeinnahmen ebenfalls. Viele kleinere Titel verschwinden, weil sie sich nicht mehr finanzieren können, oder werden zur Beute von privaten Interessen oder grossen Medienkonglomeraten.
Nicht alle Käufer*innen verwandeln ihre Titel jedoch in ein persönliches Forum. Seit Amazon-Chef Jeff Bezos 2013 die «Washington Post» gekauft hat, hat er sich kaum in die redaktionelle Linie der Zeitung eingemischt. «Angesichts der wirtschaftlichen Zwänge gibt es mehrere Initiativen, die auf juristischem Weg versuchen, die Medien zu stärken», sagt Arnaud Mercier. «Le Monde» versucht beispielsweise, ein Veto der Journalist*innen bei Entscheidungen ihrer Chefredaktor*innen zu ermöglichen oder ihnen Stimmrechte einzuräumen, damit sie sich zu Plänen der Aktionär*innen äussern können.