Eigentlich wollte der venezolanische Youtuber Oscar Alejandro im April 2024 mit seiner Mutter und seinem Bruder ein paar Tage Ferien im Nationalpark Canaima verbringen. Doch am Flughafen der Hauptstadt Caracas verwandelte sich die Urlaubsreise in einen Albtraum. Oscar Alejandro wurde wegen Terrorismus von der Staatssicherheit festgenommen. Eine Nacht verbrachte er voller Ungewissheit an einen Stuhl gefesselt in einer Zelle.
Am nächsten Tag wurde ihm von einem Untersuchungsrichter ein Video vorgeführt, das er sieben Monate zuvor bei einem Stadtspaziergang durch Caracas aufgenommen und auf Youtube gestellt hatte. An einer Stelle hatte er sich über die hässliche Architektur mokiert, mit der Bemerkung, der Wolkenkratzer hinter ihm gehöre in die Luft gejagt. Zu dem Zeitpunkt seiner Anhörung mobilisierten sich Hunderte seiner fast zwei Millionen Fans im Netz und forderten seine Freiheit, der Fall schlug online hohe Wellen.
Der Untersuchungsrichter befand, Alejandros Bemerkung lasse nicht auf terroristische Absichten schliessen, und setzte ihn auf freien Fuss. Das Ganze ging glimpflich aus für Oscar Alejandro.
Sein Fall ist einer von vielen. Oppositionspolitiker*innen werden beschattet, Meetings von Schlägertruppen aufgelöst. Ein Rentner wurde von der Staatssicherheit festgenommen, weil er ein Video von einem engen Vertrauten des Machthabers Nicolás Maduro beim Strandurlaub publiziert hatte. Nach regierungskritischen Tweets des im Ausland lebenden Journalisten Orlando Avedaño durchsuchte die Staatssicherheit das Haus seiner Eltern in Caracas. Der Influencer Armando Sarmiento wurde wegen Aufstachelung zum Hass angeklagt, weil er seine Follower*innen gefragte hatte, was sie von der Aussage Maduros hielten, die venezolanische Stadt Coro sei besser als Chicago.
«Die Regierung sendet die Botschaft an die Bevölkerung, dass Kritik nicht erwünscht ist und drastische Folgen haben kann. Überwachung und Angst haben ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht.» Rafael Uzcátegui, Menschenrechtsexperte und Koordinator des Friedenslaboratoriums in Caracas
Auch im Exil nicht sicher
«Das hat System», sagt Rafael Uzcátegui, Menschenrechtsexperte und Koordinator des Friedenslaboratoriums in Caracas. «Die Regierung sendet die Botschaft an die Bevölkerung, dass Kritik nicht erwünscht ist und drastische Folgen haben kann. Überwachung und Angst haben ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht. Wir alle bewegen uns wie auf rohen Eiern.»
Begonnen hat die Verfolgungswelle im August 2023. Die Gesamtzahl der Angriffe auf die Zivilgesellschaft stieg 2023 auf über 500, ein Drittel mehr als im Vorjahr, wie das Zentrum für Verteidigung und Justiz berichtet. Dutzende Oppositionspolitiker*innen und Aktivist*innen haben seither das Land verlassen.
Aber nicht einmal im Ausland sind sie sicher, wie der Fall von Ronald Ojeda zeigt. Der ehemalige Leutnant war 2017 wegen einer angeblichen Verschwörung gegen Maduro festgenommen worden. Ihm gelang jedoch die Flucht aus dem Gefängnis, und er erhielt in Chile Asyl. Doch selbst dort war er vor der Verfolgung von Maduros Regierung nicht sicher: Der 32jährige Familienvater wurde im Februar 2024 von einem Kommando der venezolanischen Mafiagruppe Tren de Aragua ermordet. Der Befehl dazu kam nach Ermittlungen der chilenischen Staatsanwaltschaft aus Caracas. Die Verfolgung Andersdenkender erstreckte sich damit erstmals auch aufs Ausland.
Der Grund dafür sind die Wahlen Ende Juli. Für Maduro sehen die Umfragen nicht gut aus. Nur rund 20 Prozent Zustimmung geniesst er – drei Viertel der Befragten hingegen wollen ihn loswerden. Deshalb hat das autoritäre Regime die Zügel angezogen. Im Januar 2024 rief Maduro die Operation «Bolivarischer Zorn» aus. Dieser werde alle ereilen, die in Mordkomplotte oder Staatsstreiche verwickelt seien, erklärte er. Die Definition obliegt dem Ermessen der gleichgeschalteten Justiz.
«Maschinerie der Repression»
Zu den Opfern gehören zahlreiche Politiker*innen aus dem Umfeld der Oppositionskandidatin María Corina Machado, die interne Vorwahlen der Regierungsgegner* innen klar gewonnen hat, dann aber nicht zur Wahl zugelassen wurde. Sieben ihrer Mitarbeiter*innen sind in Haft, sechs haben sich in die argentinische Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt.
Aber es traf auch Medienschaffende wie Sebastiana Barráez und Menschenrechtsverteidiger*innen wie Tamara Sujú und Rocío San Miguel. Alle sollen sie an einem nicht näher detaillierten Mordkomplott beteiligt gewesen sein. Weil sie nach ihrer Verschleppung durch die Staatssicherheit zum Teil tagelang verschwunden waren, intervenierte das Uno-Menschenrechtsbüro in Caracas – und wurde im Februar prompt des Landes verwiesen. «Das Menschenrechtsbüro war unser letztes Bollwerk», sagt Uzcátegui. «Seither sind wir schutzlos.»
Der Bericht, den das Uno-Büro anschliessend veröffentlichte, ist deutlich und düster: Darin ist die Rede von Foltereinrichtungen und von einer «Phase offener Repression». Die Staatsanwaltschaft sei Teil der repressiven Maschinerie, um der Verfolgung von Regimegegner* in nen ein legales Mäntelchen umzuhängen; die Nationalgarde begehe weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen.
Gesetz gegen NGOs
Um die Übergriffe zu rechtfertigen, hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen nach dem Vorbild anderer autoritärer Staaten erlassen, beispielsweise ein NGO-Gesetz, das eine Neuzulassung aller zivilgesellschaftlichen Organisationen vorsieht. «Die kritischsten Organisationen werden ihren Rechtsstatus verlieren», fürchtet Uzcátegui.
Wer Verständnis für die Position Guyanas geäussert hat, dem droht nun die Aberkennung des passiven Wahlrechts.
Ein zweites Gesetz betrifft die Essequibo-Region und gilt entgegen rechtsstaatlichen Grundsätzen auch rückwirkend. Der Essequibo ist eine umstrittene Region zwischen Venezuela und Guyana. Wer jemals in seinem Leben Verständnis für die Position Guyanas geäussert hat, dem droht nun die Aberkennung des passiven Wahlrechts. Dieses Gesetz ist laut Uzcátegui auch auf María Corina Machado und ihre Partei gemünzt.
Und drittens ermöglicht es ein neues Anti-Faschismus-Gesetz, Kritik an der Regierung zu kriminalisieren.
Zensur und Selbstzensur
Die Botschaft Maduros ist in der Gesellschaft angekommen, sagen Aktivist*innen vor Ort. Der jüngste Bericht des Uno-Menschenrechtsbüros und eine kritische Erklärung des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, zum Essequibo-Gesetz wären noch vor einem Jahr tausendfach in sozialen Netzwerken geteilt und kommentiert worden. Am 8. April 2024 erreichte der Tweet von Almagro hingegen nur 93 ReTweets.
Die Ein- und Ausreise nach Venezuela ist inzwischen zu einer nervlichen Zerreissprobe geworden. «Zum ersten Mal habe ich bei der Einwanderungsbehörde am Flughafen nicht gesagt, dass ich Journalistin bin, sondern dass ich aus familiären Gründen unterwegs bin», erzählt die Reporterin eines digitalen Mediums, die öfter für Schulungen und Vorträge ins Ausland reist. Die Journalistin hat sich nach eigenen Angaben zur Selbstzensur durchgerungen. «Ich habe meine Nachrichtendienste so eingestellt, dass sie nach 24 Stunden automatisch gelöscht werden», sagt sie.
Hintergrund für die Repressionswelle sind offenbar interne Machtverschiebungen in der Regierung. Bis Anfang des Jahres hielten sich zivile und militärische Machtgruppen noch die Waage. Die zivile Fraktion war stets darum bemüht, auf internationaler Bühne zumindest den Anschein von Legitimität und Respekt des internationalen Regelwerks zu erwecken, um regionale Alliierte wie Brasilien und Mexiko nicht zu brüskieren. In den letzten Monaten scheint aber der militärische Flügel unter Verteidigungsminister Vladimir Padrino das Zepter übernommen zu haben. Viele ranghohe Offiziere fürchten offenbar, dass sie bei einem Regimewechsel zum Bauernopfer werden. Denn sie stehen an vorderster Front der Menschenrechtsverletzungen, die derzeit vom Internationalen Strafgerichtshof untersucht werden.
In diesem Umfeld wird es für die Opposition schwierig, ihre numerische Überlegenheit im Juli in einen Wahlsieg umzumünzen – zumal ihre populärsten Kader vom Regime gar nicht zugelassen wurden. Es ist angesichts der desaströsen Wirtschaftslage mittelfristig aber auch nicht zu erwarten, dass Maduro wieder an Popularität gewinnt. Menschenrechtsorganisationen fürchten daher, dass sich Venezuela auf einer Strasse ohne Wiederkehr befindet und nun unwiderruflich in den Totalitarismus abgleitet.