© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2024 – Medien im Konflikt Widerstand gegen den Rückschritt

Von Agnès Callamard. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2024.

Befinden wir uns auf dem Weg zurück in die Vergangenheit? Im Jahr 2023 stellte das politikwissenschaftliche Forschungsinstitut V-Dem fest, dass die Zahl der Menschen, die in Demokratien leben, auf den Stand von 1985 gesunken ist – also bevor Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen wurde und vor dem Fall der Berliner Mauer. Doch die Zeit nach dem Kalten Krieg mit ihren Hoffnungen auf eine neue Ära für die Menschheit war viel zu kurz.

Im vergangenen Jahr häuften sich entgegengesetzte Tendenzen. Autoritäres Denken und Handeln griffen auf Regierungs- und Gesellschaftse bene um sich. In zahlreichen Ländern weltweit untergruben autoritäre Massnahmen die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Geschlechtergleichstellung und die sexuellen und reproduktiven Rechte.

Der vorherrschende öffentliche Diskurs basierte auf Hass und Angst und dämonisierte marginalisierte Gruppen, insbesondere Migrant*innen, Flüchtlinge und Angehörige rassifizierter Bevölkerungsgruppen.

Die Rechte von Frauen kamen im Jahr 2023 immer stärker unter Beschuss. Bemühungen zur Geschlechtergleichstellung blieben vielerorts ohne Erfolg, Fortschritte der vergangenen zwanzig Jahre drohten zunichte gemacht zu werden. In Afghanistan ist es derzeit eine Strafe, eine Frau oder ein Mädchen zu sein. Im Iran führten die Behörden ihre brutale Unterdrückung der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» fort. Uganda verabschiedete ein strenges homofeindliches Gesetz, während in den USA einflussreiche Personen transfeindliche Diskurse anheizten oder entsprechende Massnahmen beschlossen.

2023 war der globale Wohlstand so hoch wie nie zuvor. Die Weltbank bezeichnet das vergangene Jahr dennoch als «ein Jahr der Ungleichheit». Menschen, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzen, werden gewaltsam unterdrückt, Klimaaktivist*innen als «Terrorist*innen» gebrandmarkt, wenn sie Regierungsbeschlüsse zum Ausbau fossiler Energieträger kritisieren.

Es gibt unzählige Beispiele, die uns in eine Zeit vor 1985 zurückversetzen. Oder sogar in die Zeit vor 1948, als wir glaubten, die Tore der Hölle für immer geschlossen zu haben.

Leider scheinen die moralischen und rechtlichen Lehren, die aus dieser dunklen Zeit gezogen wurden, vergessen zu sein. Nach den ungeheuerlichen Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 startete Israel eine Militärkampagne, die sich zu einer Strafexpedition gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens entwickelte. Für Menschen auf der ganzen Welt symbolisieren die Ereignisse im Gazastreifen das Versagen der Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universalitätsprinzips und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit sorgen sollten. Hinzu kommt die Militärinvasion Russlands in der Ukraine, die gegen die Uno-Charta verstösst und die internationale Rechtsordnung untergräbt. China, ein weiteres ständiges Mitglied des Uno- Sicherheitsrats, unterstützt das myanmarische Militär und dessen rechtswidrige Luftangriffe. Im eigenen Land nimmt die chinesische Regierung Menschen fest und foltert sie.

Doch angesichts dieses allgemeinen Rückschritts bei den Menschenrechten mobilisieren sich überall auf der Welt Menschen, um sich den Kräften entgegenzustellen, die uns in eine Zukunft katapultieren wollen, die wir nicht wollen. Die im Jahr 2023 demonstrierte internationale Solidarität ist beispiellos.

Ich hoffe, dass wir uns an 2023 auch als ein Jahr erinnern werden, in dem mutige Leute auf der ganzen Welt im Namen einer gemeinsamen Menschlichkeit aufgestanden sind. Menschen, die sich erhoben haben, um Stopp zu sagen. Im Namen unserer gemeinsamen Menschlichkeit und der Menschenrechte.