Saudi-Arabien befindet sich im Umschwung: Obwohl Traditionen noch allgegenwärtig sind, setzt die Regierung viel daran, das Bild eines modernen Landes zu propagieren, das ein verlässlicher Partner sein will.© Hassan Ammar / AP / Keystone
Saudi-Arabien befindet sich im Umschwung: Obwohl Traditionen noch allgegenwärtig sind, setzt die Regierung viel daran, das Bild eines modernen Landes zu propagieren, das ein verlässlicher Partner sein will. © Hassan Ammar / AP / Keystone

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin September 2024 – Saudi-Arabien Der neue Friedensvermittler?

Interview von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2024.
Saudi-Arabien strebt nach mehr Einfluss am Golf, aber auch auf der weltpolitischen Bühne. Die Regierung forciert den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel – allerdings unter Missachtung der Menschenrechte. Wie das Land sich trotz dieser Widersprüche erfolgreich neu positioniert, erklärt der Saudi-Arabien-Experte Sebastian Sons.
Saudi-Arabien ist im Aufbruch. Saudi-Arabien ist die Zukunft. Zumindest, wenn es nach dem Regierungsprogramm Vision 2030 von Kronprinz Mohammed bin Salman geht. Was beinhaltet diese Vision?

Die Vision 2030 ist ein Modernisierungsprogramm, das die Abhängigkeit vom Erdöl beenden, die Wirtschaft liberalisieren und neue Investor*innen ins Land holen will. Die Vision 2030 ist jedoch nicht nur ein Programm zum Umbau der Wirtschaft, sie bildet auch die Grundlage für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Im Zentrum steht nicht mehr die Loyalität zum Königshaus – auch wenn diese enorm wichtig ist – sondern die individuelle Leistung. Die jungen Leute sollen dafür begeistert werden, das Land wirtschaftlich mitaufzubauen und gesellschaftlich zu verändern. Damit soll der Welt gezeigt werden, dass Saudi-Arabien nicht den Klischees entspricht, die man von dem Land hat.

Wie erfolgreich ist Saudi-Arabien mit dieser Strategie?

Die Vision 2030 ist allein deswegen schon ein Erfolg, weil alle darüber reden. Mohammed bin Salman hat es innerhalb kurzer Zeit geschafft, die trägen Verwaltungsstrukturen effizienter zu machen, die Arbeitslosigkeit zu senken und mehr Frauen in den Arbeitsmarkt einzubinden. Die nachhaltigste Entwicklung ist sicher, dass bei der jüngeren Bevölkerung ein Zukunftsoptimismus ausgelöst wurde. Sie sehen, dass sie etwas verändern können, und nehmen ihre Verantwortung vermehrt wahr. Doch die Vision bringt nicht nur Erfolge. So verschärfen sich teils Generationenkonflikte. Viele ältere Menschen haben das Gefühl, abgehängt zu werden. Konflikte innerhalb der Familien treten häufiger zutage, Gräben zwischen Stadt und Land tun sich auf. Hinzu kommen die hohen Erwartungen an die Bevölkerung. Der grosse Leistungsdruck auf der jungen Bevölkerung hat negative Folgen: Die Suizidrate ist gestiegen, Drogenkonsum ist ein grosses Problem.

«Was die Meinungsäusserungs-freiheit und den politischen Aktivismus betrifft, sehen wir eine deutliche Verschärfung.»

Die Vision 2030 gilt oft als Imageprojekt. Beinhaltet sie auch echte Bemühungen zur Verbesserung der Menschenrechte?

Das ist eine schwierige Frage. Die Situation der Frauen hat sich definitiv verbessert, rechtlich, wirtschaftlich, politisch. Diese Veränderungen sind irreversibel. Die Situation der saudischen Schiiten hat sich teilweise verbessert, weil die institutionalisierte Religion an Einfluss verloren hat. Doch was die Meinungsäusserungsfreiheit und den politischen Aktivismus betrifft, sehen wir eine deutliche Verschärfung. Oft wird unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung oder der Bekämpfung des Drogenhandels gegen Kritiker*innen vorgegangen. Es geht darum, ein Exempel zu statuieren. Das Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger* innen muss gesondert betrachtet werden. Viele Frauenrechtsaktivist* innen, die jetzt in Haft sind, haben sich für Ziele eingesetzt, die auch in der Vision 2030 vorkommen. Sie werden meiner Meinung nach verfolgt, weil sie durch ihren Aktivismus ins Rampenlicht rücken und so die Autorität und die Legitimität des Kronprinzen angreifen.

Mohammed bin Salman positioniert sich gerne als Reformer. Dennoch hat sich die Menschenrechtslage seit der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 eher verschlechtert als verbessert. Wird dieser Widerspruch auch innerhalb Saudi-Arabiens diskutiert?

In Saudi-Arabien wird das nicht als Widerspruch gesehen. Viele Saudis sehen die Repression als notwendiges Übel, um die eigene Gesellschaft voranzubringen. Sie glauben an den Plan der Regierung, wonach gesellschaftliche Liberalisierung plus wirtschaftliche Diversifizierung plus politische Repression Stabilität ergibt. Viele haben Angst, dass Proteste und abweichende Meinungen zu Unruhen führen könnten. Selbstverständlich gibt es hinter vorgehaltener Hand Kritik. Aber am Ende des Tages wägen viele ab, ob sie Stabilität wollen oder Chaos und Anarchie.

Die Vision 2030 stösst trotz Menschenrechtsverletzungen auf Anklang. Westliche Staaten, darunter auch die Schweiz, betonen immer wieder die Fortschritte, die Saudi-Arabien im Bereich der Menschenrechte erzielt habe. Weshalb wird die Kritik immer leiser?

Das hat zwei Gründe. Einerseits ist Saudi-Arabien im Wirtschafts- und Sicherheitsbereich ein wichtiger strategischer Partner für viele europäische Länder und ist nach der Invasion Russlands in der Ukraine zu einem wichtigen Energielieferanten geworden. Die Vision 2030 bietet andererseits ein enormes Potenzial für ausländische Investor*innen. Viele europäische Firmen sind in saudischen Grossprojekten wie Neom oder The Line aktiv und verdienen da viel Geld. Saudi-Arabien scheint auf der politischen Weltbühne angekommen zu sein.

«Saudi-Arabien hat ein grosses Interesse an regionaler Stabilität – und nimmt dafür gerne eine aktivere Rolle in der Friedensvermittlung ein.»

Im vergangenen Jahr war der Golfstaat Gastgeber einer internationalen Konferenz zum Ukraine-Krieg, jetzt bietet sich Kronprinz Mohammed bin Salman als Vermittler im Nahostkonflikt an und will die nächste Friedenskonferenz zur Ukraine durchführen. Wird das Land zum neuen Friedensvermittler?

Saudi-Arabien vermittelt schon länger zwischen verschiedenen Ländern, früher geschah dies jedoch oft im Verborgenen. Der Krieg in Gaza, der Konflikt mit Iran, der Krieg im Jemen: Das sind Unruheherde, die potenzielle Investor*innen abschrecken könnten. Saudi-Arabien hat also ein grosses Interesse an regionaler Stabilität – und nimmt dafür gerne eine aktivere Rolle in der Friedensvermittlung ein. Dem Land kommt zugute, dass es im Gegensatz zu dem meisten westlichen Ländern gute Netzwerke im globalen Süden und Verbindungen zur arabischen Welt hat. Dass es keinem globalen Lager zugeordnet werden will, spielt dem Königreich im Moment auch in die Karten. Saudi- Arabien ist sowohl mit den USA als auch mit China im Gespräch. Aktuell funktioniert diese pragmatische, opportunistische Aussenpolitik. Doch der Moment mag kommen, wo Saudi-Arabien Stellung beziehen muss.

Saudi-Arabien hat im März 2023 die diplomatischen Beziehungen zum Iran wieder aufgenommen. Auch die Spannungen mit Katar haben sich entschärft. Gleichzeitig ist Saudi-Arabien noch immer eine aktive Kriegspartei im Jemen. Welche Strategie steckt dahinter?

Saudi-Arabien will aus dem Jemen-Konflikt herauskommen, weil der sehr kostspielig ist und sich negativ auf die Reputation auswirkt. Die Verhandlungen mit der jemenitischen Huthi-Miliz sind im Gange. Die Annäherung an den Iran soll helfen, den Konflikt zu entschärfen. Saudi-Arabien hat begriffen, dass Konfrontation nicht hilft, die eigenen Ziele zu erreichen. Zudem ist der Konflikt ein Sicherheitsrisiko. Es gab immer wieder Luftschläge in Richtung Saudi-Arabien. Das wirkt sich negativ auf die Pläne allfälliger Investor*innen aus.

Im Nahostkonflikt hält sich Saudi-Arabien im Moment vornehm zurück. Warum?

Die Gespräche mit Israel waren für Saudi-Arabien wichtig, weil die Hoffnung bestand, stärkere Sicherheitsgarantien von den USA zu bekommen. Vor dem 7. Oktober gab es eine Phase, in der Saudi-Arabien über eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel nachdachte. Seither ist es für die saudische Regierung aber extrem schwierig, weiter mit Israel und den USA zu verhandeln, da die saudische Bevölkerung die israelische Offensive im Gazastreifen stark kritisiert. Derzeit liegt der Fokus der saudischen Führung vor allem darauf, Sicherheitsgarantien von den USA zu erhalten.

Welche Herausforderungen entstehen durch den Machtgewinn Saudi-Arabiens für den Westen?

Es gibt Chancen und Risiken zugleich. Das Risiko besteht immer, dass der Westen Zugeständnisse macht, sich Saudi- Arabien aber dennoch nach anderen Partner*innen, wie etwa China, orientiert. Es entstehen jedoch auch Chancen. Saudi- Arabien kann als Brückenbauer zwischen dem Westen und anderen Akteur*innen agieren. Die Öffnung Saudi-Arabiens bietet eine Chance für einen besseren Dialog, für einen Zugang zur Region. Dieser Dialog wird schwierig, auch aufgrund der Menschenrechtsverletzungen. Aber es bleibt kaum eine andere Wahl, wenn der Westen verhindern will, dass sich Saudi-Arabien gänzlich Ländern wie China oder Russland zuwendet.