«Es ist Putin, der dem Beispiel Lukaschenkos folgt, und nicht umgekehrt », sagte Swetlana Tichanowskaja in einem Interview mit der «Tribune de Genève» im Februar dieses Jahres. Laut der ehemaligen Oppositionskandidatin für die Präsidentschaftswahlen 2020 ist die Repression in Belarus noch stärker als in Russland. Seit vier Jahren lebt Tichanowskaja in Litauen. Im Exil verkörpert sie die Stimme des demokratischen Belarus.
Seit 1994 regiert Alexander Lukaschenko das Land mit 10 Millionen Einwohner* innen, das zwischen Polen, der Ukraine und Russland liegt, mit eiserner Hand. Im August 2020 liess er erneut die Wahlen manipulieren, um an der Macht zu bleiben. Die belarussische Bevölkerung demonstrierte mehrere Wochen gegen die offiziellen Wahlergebnisse. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen, die Gewalt begrub jede Hoffnung auf einen Wandel.
Zunehmende Überwachung
Andersdenkende haben in Belarus nur wenig Möglichkeiten: ins Ausland gehen, schweigen oder eine Inhaftierung riskieren. Die Zahl der politischen Gefangenen, die vor den Wahlen 2020 praktisch bei null lag, stieg explosionsartig an – dem Menschenrechtszentrum Viasna zufolge waren es Mitte Januar 2024 mindestens 1417 politische Gefangene. Amnesty International bezeichnet die Haftbedingungen in belarussischen Gefängnissen, in denen auch gefoltert wird, als «unmenschlich».
Die Bürger*innen leben unter ständiger Überwachung durch den Geheimdienst. Ein kritischer Kommentar oder ein Like in sozialen Netzwerken kann zu einer Gefängnisstrafe führen. Die Behörden setzen Videoüberwachungstechnologien ein, um Oppositionelle aufzuspüren und Aufstände zu verhindern. «Das Regime installiert immer mehr Kameras, sie sind überall», sagt Yuri*, ein belarussischer Informatiker, der im Exil lebt.
Die Gesichtserkennungssoftware Kipod ist das wichtigste Werkzeug, das zu Strafverfolgungszwecken missbraucht wird. Sie wurde von der belarussischen Firma Synesis entwickelt und sollte eigentlich dazu dienen, vermisste Kinder oder flüchtige Kriminelle aufzuspüren. «Die Regierung nutzt die Software nun, um Aktivist*innen aufzuspüren und zu verfolgen», sagt Valery Tsepkalo, einer der Oppositionsführer und ehemaliger Direktor des Technologieparks in Minsk, per Videoschaltung. Auch in Russland wird Kipod verwendet, um Dissident*innen zu identifizieren. Synesis ist daher seit Januar 2020 von der EU und seit Februar 2022 von den USA mit Sanktionen belegt.
«Der demokratische Widerstand wurde in den digitalen Raum gedrängt.» Alesia Rudnik, Politologin
Auch russische Ziele
Während die Regierung die neuen Technologien als Kontrollinstrument einsetzt, haben die Gegner*innen von Alexander Lukaschenko sie zu einer ihrer wichtigsten Waffen gemacht. Denn die üblichen Aktivitäten der Demokratiebewegung, allen voran Demonstrationen, werden stark unterdrückt. «Der demokratische Widerstand wurde in den digitalen Raum gedrängt, der zu einem der wenigen Orte geworden ist, an dem der politische Kampf fortgesetzt werden kann», schreibt Politologin Alesia Rudnik in einem Bericht über den Online-Widerstand in Belarus.
Eine der wichtigsten Organisationen der Demokratiebewegung sind die «Cyber Partisans» – das Kollektiv wurde 2020 nach der umstrittenen Wiederwahl Lukaschenkos gegründet. Dabei handelt es sich um eine Gruppe anonymer Hacker*innen. Die Cyber-Partisan*innen wurden insbesondere zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine bekannt, als sie das Computersystem der belarussischen Eisenbahngesellschaft angriffen und so die Logistik der russischen Armee störten.
«Unser Hauptziel ist es, Belarus zu befreien und mit dem Aufbau demokratischer Institutionen zu beginnen. Derzeit hängt dies jedoch vom Sieg der Ukraine ab», sagt Yuliana Shemetovets, die Sprecherin der Gruppe. Die Cyber-Partisan*innen greifen Ziele sowohl in Belarus – insbesondere staatliche Institutionen, die an der Repression beteiligt sind – als auch in Russland an. «Wir dringen in den russischen digitalen Raum ein und helfen so der Ukraine, benötigte Daten zu erhalten. Wir suchen auch nach Möglichkeiten für Operationen mit grosser Wirkung. So hackten wir Roskomnadzor, die in Russland für Medienaufsicht und Zensur zuständige Behörde», sagt Shemetovets.
Langfristige Pläne
Die belarussischen Aktivist*innen haben langfristige Ziele, denn ein schneller Regierungswechsel scheint illusorisch, solange Lukaschenko von Moskau bedingungslos unterstützt wird. Der Aktivist und Informatiker Pavel Liber, der ebenfalls im litauischen Exil lebt, wurde der Regierung ein Dorn im Auge, nachdem er das Online-Tool Golos entwickelt hatte, mit dem Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen 2020 nachgewiesen werden konnte. Heute macht Liber mit seiner Smartphone-App New Belarus von sich reden. Die App New Belarus ermöglicht einen einfachen Zugang zu zahlreichen Dienstleistungen, die von prodemokratischen Organisationen angeboten werden, etwa Gesundheitsdienste oder Rechtshilfe, sowie zu einem unabhängigen Nachrichtenportal. Ihr Hauptzweck ist jedoch, dem bürgerlichen Engagement, das angesichts der Repression zusammengebrochen ist, neuen Schwung zu verleihen. «Seit dreissig Jahren können wir nicht mehr an einem echten politischen Leben teilnehmen, also müssen wir mit kleinen Schritten beginnen», sagt Pavel Liber.
Seit dem Frühjahr 2023 konnten in Polen oder Litauen lebende Belaruss*innen beantragen, einen kleinen Teil ihrer Steuern an Wohltätigkeitsorganisationen zu zahlen, zu denen auch New Belarus gehört. Pavel Liber ist der Meinung, dass die Bevölkerung damit mit der Methode der kollektiven Debatte vertraut gemacht werden kann. So wurde 2024 unter anderem die Finanzierung der Einrichtung einer belarussischen Bibliothek in der litauischen Hauptstadt Vilnius möglich.
Ein noch grösserer Schritt wurde im Mai dieses Jahres getan, als über New Belarus eine Erneuerungswahl online organisiert wurde: Es mussten die Mitglieder des «Koordinationsrats», des repräsentativen Organs der demokratischen Kräfte und der Zivilgesellschaft im Exil, gewählt werden. Trotz der relativ geringen Wahlbeteiligung von 6723 Personen waren die Wahlen ein Erfolg, denn mit der Plattform war die Wahl überhaupt erst möglich, da sie den Schutz der persönlichen Daten der Wähler*innen gewährleisten konnte.
«Wenn die Belaruss*innen nicht lernen, wie sie sich am politischen Leben ihres Landes beteiligen können, wird ein anderer Populist die Wahlen gewinnen.» Pavel Liber
Für Pavel Liber ist die politische Beteiligung von zentraler Bedeutung für die Vorbereitung auf die Zeit nach Lukaschenko: «Wenn die Belaruss*innen nicht lernen, wie sie sich am politischen Leben ihres Landes beteiligen können, wird ein anderer Populist die Wahlen gewinnen und sagen: ‹Ich werde mich für euch um alles kümmern.› Dann werden wir uns in fünf Jahren wieder treffen und darüber diskutieren, wie wir diese neue Diktatur stürzen können.»