Grosses Heimweh: Am liebsten würde Ali heimkehren, er muss aber weiterhin einer ungewissen Zukunft in der Schweiz entgegensehen. © Amnesty Schweiz
Grosses Heimweh: Am liebsten würde Ali heimkehren, er muss aber weiterhin einer ungewissen Zukunft in der Schweiz entgegensehen. © Amnesty Schweiz

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin September 2024 – Unbegleitete minderjährige Asylsuchende «Ich war total verloren»

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2024.
Im vergangenen Jahr haben mehr als 3000 minderjährige Geflüchtete in der Schweiz Schutz gesucht. Ein grosser Teil kommt aus dem kriegsversehrten Afghanistan. Einer von ihnen ist Ali*. Wir sprachen mit dem jungen Geflüchteten über seine Situation und mit Susanne*, die ihn auf seinem Weg begleitet.

Ali war erst fünfzehn, als er ein halbes Jahr unterwegs war und von Afghanistan über den Iran, die Türkei und die gefährliche Balkan-Route Richtung Schweiz flüchtete. «Ich musste mein Land verlassen», sagt der gerade 18 Jahre alt gewordene junge Afghane. «Als ältester Sohn war ich in Gefahr, nachdem die Taliban ins Dorf gekommen waren und meine Familie bedrohten. Menschenrechte gibt es seit ihrer Machtergreifung keine mehr.»

Ali ist einer der minderjährigen Geflüchteten, die immer jünger allein in die Schweiz kommen – UMA nennt man sie, unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Details von seiner Flucht und was er dabei erlebt hat, mag er nicht erzählen. «Es war sehr schlimm», sagt er dazu bloss.

In der Schweiz angekommen, musste er sich anfangs ebenfalls allein durchschlagen. «Ich hatte keine Ahnung von diesem Land, ich wollte einfach Sicherheit und Ruhe finden», sagt er. «Zunächst war ich in einem Bundesasylzentrum, wo ich meinen Asylantrag stellte. Von dort hat man mich nach Chiasso geschickt. Ich war total verloren, wusste  nicht, wie ich dorthin gelangen sollte.» In Chiasso angekommen, war erst mal nichts mit Ruhe. Ali musste sich ein Zimmer mit 13 anderen UMAs teilen – an Schlaf war kaum zu denken.

Nach vier Monaten wurde er wieder transferiert, kam für sechs Monate in ein Durchgangszentrum mit einer Abteilung für UMAs und Familien in der Deutschschweiz  Hier sei die Betreuungssituation etwas besser gewesen, sagt er. «Aber auch hier konnte ich kaum schlafen. Das Zimmer lag direkt an einer Bahnlinie.» Während er nachts nicht zur Ruhe kam, war die Langeweile tagsüber kaum auszuhalten. «Wir Jungs hingen nur rum, sassen die ganze Zeit am Handy. Viele Jungs verletzen sich wegen der inneren Anspan Anspannung. Ich habe mich geritzt, einfach damit ich etwas tat.» Die einzige Abwechslung waren die Deutschkurse, mit welchen Ali vor einem Jahr starten konnte.

«Der psychische Druck, die Ungewissheit und das Heimweh belasten diese Jugendlichen enorm.»  Susanne

«Der psychische Druck, die Ungewissheit und das Heimweh belasten diese Jugendlichen enorm», sagt Susanne, die mit UMAs in Asylzentren arbeitet und Ali eng begleitet. «Dazu kommt, dass sie nicht immer altersgerecht behandelt werden. Man vergisst oft, dass sie noch in der Pubertät sind und was das bei jungen Männern bedeutet.»

Viel Reden, wenig Zeit

Ali möchte ungern seine bisherigen Betreuungspersonen kritisieren. Er habe aber schon auch Probleme mit einigen gehabt. «Sie verstanden unsere Bedürfnisse oft nicht. Oder hatten keine Zeit dafür», sagt er. So sei es schwierig gewesen, verständlich zu machen, dass das Schweizer Essen den afghanischen Jugendlichen nicht schmecke. «Mit uns waren sie vordergründig meist nett, aber dann wurden unsere Anliegen doch einfach übergangen.» Manche hätten sich auch kaum für sie interessiert.

«Als die für mich zuständige Person einmal 20 Tage nicht verfügbar war, hat mich in der Zeit niemand gefragt, wie es mir geht.» Dabei sei es für die Jugendlichen enorm wichtig, eine Bezugsperson zu haben, jemanden, der verlässlich für sie da sei, sagt Susanne. Viele Jugendliche hätten Schreckliches erlebt, seien traumatisiert. Oft komme es ihr vor, als würde man davon ausgehen, dass ein Bett und genug zu essen ausreichend seien. Ali bestätigt: «Untereinander sprachen wir UMAs oft nächtelang über unsere Erlebnisse, um sie zu verarbeiten.»

«Die Betreuer*innen verstanden unsere Bedürfnisse oft nicht. Oder hatten keine Zeit dafür.» Ali

Wie viele Betreuende für UMAs es in den Asylzentren gebe, sei nicht nur von Zentrum zu Zentrum unterschiedlich – es hänge oft auch von Zufällen ab, sagt Susanne. Manchmal gebe es genug Platz und externe Wohnungen für die älteren Jugendlichen, dann wieder nicht – es werde von den Behörden jeweils schlecht antizipiert, Anpassungen bei der Betreuung würden wegen der Bürokratie zu lange dauern. «Vor einem Jahr musste ich an zwei Arbeitstagen pro Woche 20 Klient*innen betreuen, da hatte ich kaum Zeit für sie», sagt Susanne. Jetzt sei ihre Verfügbarkeit etwas besser. «Dafür werden die Jungs, die in die Schweiz flüchten, immer jünger – heute sind sie zum Teil erst 14 Jahre alt.» 

Grosses Heimweh

Alis Asylantrag wurde mit einer vorläufigen Aufnahme beantwortet. Und er konnte in ein Integrationsprogramm einsteigen, das in seinem Wohnkanton angeboten wird. «Ali hat Glück, dass er auch nach seinem 18. Geburtstag in diesem Programm bleiben kann», sagt Susanne. «Für andere ist mit dem Erreichen der Volljährigkeit Schluss damit, und sie sind von einem Tag auf den anderen auf sich selbst gestellt.»

Ali lebt inzwischen in einer Wohngemeinschaft. «Hier ist es viel besser», sagt  er. «Ich lebe jetzt unabhängiger und muss mein Zimmer nur noch mit einem anderen teilen.» Seit einem Monat kann Ali ein Praktikum in einem Gastrobetrieb machen. «Das macht mir Spass, ich lerne viel und habe vor allem eine Beschäftigung », sagt er. Aber er macht sich Sorgen darüber, wie es nach dem Praktikum weitergeht. «Ich werde dann wieder den ganzen Tag zu Hause sein. Um etwas zu unternehmen, fehlt das Geld.»

Inzwischen spricht Ali schon gut Deutsch. «Wir haben in Kursen viel über die Schweiz gelernt», sagt er. Kontakt mit Schweizer*innen hat er aber kaum. «Ich spüre, dass wir hier nicht willkommen sind. Viele Leute reagieren ablehnend, wenn ich sie anspreche. Aber es gibt auch viele nette Schweizer*innen», schiebt er sofort nach.

Wie sieht Ali seine Zukunft? Träumt er von einer Lehre, einer erfolgreichen Zukunft in der Schweiz? «Nein, ich möchte möglichst bald wieder nach Hause, zurück zu meiner Familie. Ich vermisse sie unendlich, mache mir grosse Sorgen um meine Mutter und habe Heimweh. Aber ich kann erst heimkehren, wenn in Afghanistan wieder Sicherheit herrscht. Im Moment ist das unmöglich.»

 

* Ali und Susanne sind Pseudonyme zum Schutz der benannten Personen.

 


Sensibilisierungskampagne von Amnesty

Die Rechte der Minderjährigen müssen geschützt werden

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) benötigen besonderen Schutz und Unterstützung – denn es sind Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern, ohne Verwandte geflüchtet sind. Sie sind oft schwer traumatisiert, haben ihre Familien verloren und finden sich in einer völlig unbekannten Umgebung wieder. Zudem sind sie nicht selten isoliert und haben wenig Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen.

Doch die Betreuung von UMAs ist in der Schweiz oft ungenügend, die bestehenden Angebote reichen nicht aus, um ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden; auch fehlt es an Aufmerksamkeit und Zuwendung. Der Zugang zu Bildung ist für UMA eingeschränkt, viele haben keine oder nur sehr begrenzte Möglichkeiten, an Bildungsprogrammen teilzunehmen, was ihre Chancen auf eine erfolgreiche Integration und eine positive Zukunft deutlich verringert.

Deswegen lanciert Amnesty eine Kampagne, um auf die Situation der Kinder und Jugendlichen aufmerksam zu machen und den Schutz ihrer Rechte gemäss der Kinderrechtskonvention einzufordern. Kishor Paul

Mehr zur Kampagne von Amnesty Schweiz für unbegleitete minderjährige Asylsuchende