© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin September 2023: CARTE BLANCHE Peinliche politische Manöver

Von Pia Hollenstein. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2024.
Die Alt-Nationalrätin Pia Hollenstein ärgert sich über Parlament und Bundesrat, die das EGMR-Urteil nicht umsetzen wollen. Sie bleibt aber optimistisch.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 9. April 2024 geurteilt, dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletzt. Denn das Land tue nicht das Nötige gegen die fortschreitende Klimaerwärmung. Für uns KlimaSeniorinnen und für alle Menschen, die sich gegen die Klimakrise stemmen, war das eine überwältigende Entscheidung. Der jahrelange Kampf hat sich gelohnt.

Überwältigt waren auch rechtsbürgerliche Wirtschaftskreise. Sie waren so sehr schockiert, dass sie kurzerhand ihr rechtsstaatliches Wissen beiseiteschoben und in den beiden Parlamentskammern verlangten, der Bundesrat möge bitteschön die Entscheidung des EGMR ignorieren.

Natürlich haben mich als Schweizerin die entsprechenden Briefe, die wir seither bekommen haben, beschämt. Denn dass National- und Ständerat Aufrufe in die Welt setzen, das Gerichtsurteil einer übergeordneten Instanz zu ignorieren, ist schlichtweg peinlich. So etwas kennt man von gewissen anderen Staaten. Doch solche Manöver gehören zum politischen Spiel. Und in der Sache wird diese Verzweiflungstat nichts ändern: Will der Bundesrat das Gesicht der offiziellen Schweiz wahren, wird er über die Bücher gehen und die Klimapolitik revidieren müssen.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Strassburg die Schweiz in Sachen Menschenrechte rügt. Und in den anderen Fällen hat unser Land auch nicht die beleidigte Leberwurst gespielt. Sondern sie hat das getan, was man tut, wenn im Fussball die Schiedsrichterin oder in der Politik ein Gericht die rote Karte zeigt: Man akzeptiert das Urteil, geht vom Feld und machts das nächste Mal besser.

Seit dem 9. April 2024 haben wir – haben alle in Europa – ein neues Instrument in der Hand: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.

Ich habe mich unbändig über das Urteil gefreut. Ich bin zuversichtlich, dass der Bundesrat handeln wird. Aber ich bin auch Realistin: Eine Revolution wird unser Bundesrat nicht lostreten. Dafür ist er zu konservativ zusammengesetzt. Er wird sich scheuen, die viel zu laschen Massnahmen radikal zu verschärfen. Und er wird zögern, jene wissenschaftliche Klimabilanz vorzulegen, die das Urteil verlangt: Denn sie würde zeigen, dass die Schweiz noch weit davon entfernt ist, den Netto-Null-Pfad umzusetzen.

Trotzdem, ich bin Optimistin: Seit dem 9. April 2024 haben wir – haben alle in Europa – ein neues Instrument in der Hand: Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Das Urteil wird uns helfen, wirksame Klimamassnahmen auf juristischem Weg zu verlangen. Ich bereite mich deshalb schon jetzt darauf vor, den Druck aufrechtzuhalten. Dafür braucht es mich, es braucht Sie, es braucht uns alle.