Die saudische Vision 2030 und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten wecken den Appetit ausländischer Unternehmen – auch hierzulande. So besuchte Bundesrat Guy Parmelin wie viele Staatsgäste vor ihm Saudi-Arabien im Februar 2024 in Begleitung einer grossen Delegation von Wirtschaftsvertreter*innen. Zwischen 2021 und 2023 verdoppelte sich das Handelsvolumen zwischen der Eidgenossenschaft und dem Königreich und erreichte 2023 einen Wert von 6,9 Milliarden Schweizer Franken.
Zwischen 2021 und 2023 verdoppelte sich das Handelsvolumen zwischen der Eidgenossenschaft und dem Königreich und erreichte 2023 einen Wert von 6,9 Milliarden Schweizer Franken.
Die saudische Regierung wirbt mit einer Reihe von fortschrittlichen gesellschaftlichen Reformen, die Auslandsinvestitionen fördern sollen. Die Fortschritte im Bereich Menschenrechte sind allerdings gering, es kommt weiterhin systematisch zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Dennoch betont die Schweizer Regierung immer wieder die diesbezüglichen Fortschritte, die in Saudi-Arabien erzielt würden.
Opportunistische Zurückhaltung
Die arabischen Staaten und die BRICS-Staaten Brasilien, Russische Föderation, Indien, China und Südafrika gewinnen weltweit an Einfluss. Die Journalistin Myret Zaki, ehemalige Chefredaktorin der Westschweizer Wirtschaftszeitung «Bilan», ist daher nicht überrascht über die Haltung der Schweizer Regierung gegenüber Saudi-Arabien: «Die Rolle des Westens als Weltpolizei wird immer weniger toleriert», sagt sie. Wenn die europäischen Länder Zugang zu den Chancen haben wollte, die die aufstrebenden Mächte bieten, hätten sie keine andere Wahl, als zu versöhnlicher Rhetorik zu greifen. Zumal sie in Konkurrenz mit Ländern wie China stehen, das selbst eine schreckliche Menschenrechtsbilanz vorweist. «Die Schweiz ist zudem nicht in der besten Position, wenn es darum geht, Moralpredigten zu halten», sagt Myret Zaki, denn Saudi-Arabien ist der viertgrösste Abnehmer von Schweizer Kriegsmaterial. Im Jemenkonflikt sind Spuren von Schweizer Kriegsmaterial gefunden worden, das an die Koalition der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz geliefert wurde.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hält sich mit Kritik vornehm zurück und will die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Saudi-Arabien in den kommenden Jahren gar intensivieren. Seco-Sprecher Fabian Maienfisch hebt daher auf Anfrage wenig überraschend die gesellschaftlichen Fortschritte hervor, die Saudi-Arabien gemacht habe, bevor er einräumt, dass «wichtige Herausforderungen bestehen bleiben». Er versichert, dass die Schweiz die Menschenrechtsproblematik regelmässig mit den saudischen Behörden bespreche – insbesondere auch während des Besuchs von Bundesrat Guy Parmelin in Riad im Februar. «Die Schweiz ist der Ansicht, dass durch einen offenen und anspruchsvollen Dialog Fortschritte im Bereich der Menschenrechte erzielt werden können», schreibt Maienfisch. So hatte die Schweiz im Rahmen der universellen periodischen Überprüfung des Uno-Menschenrechtsrats im Januar dieses Jahres «vier konkrete Empfehlungen an die saudischen Behörden gerichtet», die die Todesstrafe, das Recht auf freie Meinungsäusserung, die Versammlungsfreiheit sowie die Ratifizierung internationaler Menschenrechtskonventionen betrafen.
«Die Schweiz ist nicht in der besten Position, wenn es darum geht, Moralpredigten zu halten.» Myret Zaki, Wirtschaftsjournalistin
Aus wirtschaftlicher Sicht wäre es kontraproduktiv, den Partner zu brüskieren. Myret Zaki stimmt zu: «Wir bräuchten starke Hebel, um unsere Vision von Menschenrechten durchzusetzen, ohne uns von den saudischen Märkten abzuschneiden. Hebel, über die die Schweiz nicht verfügt.» Die Journalistin betont aber dennoch die Doppelmoral der Schweizer Strategie. «Man zögert zum Beispiel weniger, den Iran anzugreifen», sagt sie. Tatsächlich kritisiert die Schweiz den Iran eher, verurteilt etwa Hinrichtungen und die Gräueltaten der Sittenpolizei offen, während man solches mit Saudi- Arabien laut Mitarbeiter*innen des EDA lieber in bilateralen Gesprächen und hinter verschlossenen Türen bespricht. Doch auch im Iran wird die Kritik oft nur verhalten geäussert, um die «guten Dienste» nicht zu gefährden.
Fehlende Alternativen
Es sieht nicht danach aus, als würde sich dies in naher Zukunft ändern. «Wir haben es mit einem aufstrebenden Land zu tun, das immer reicher und mächtiger wird. Es wird immer schwieriger, gegenüber Saudi-Arabien kritisch zu sein», sagt Myret Zaki. Das saudische Königreich ist tatsächlich dabei, sich als technologischer, touristischer und finanzieller Hub im Nahen Osten zu etablieren. Fabian Maienfisch beziffert die Schweizer Wirtschaftsinteressen in Saudi-Arabien: «Die zunehmende Diversifizierung der Wirtschaft des Landes bietet viele Möglichkeiten für unsere Wirtschaft. Von den 6,9 Milliarden, die der bilaterale Handel ausmacht, belaufen sich die Schweizer Exporte auf 6,1 Milliarden Franken.»
«Die Schweiz steht vor einer existenziellen Herausforderung, auch aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Europäischen Union», sagt Myret Zaki. «Die geringste Rezession auf dem Kontinent würde uns mit voller Wucht treffen.» Seit mehreren Jahren verfolgt die Schweiz daher eine Strategie der Diversifizierung, vor allem mithilfe von Freihandelsabkommen. «Wenn wir uns vom Wirtschaftsaufschwung der Golfstaaten abschneiden, würden unsere Alternativen stark eingeschränkt.» Die Journalistin glaubt, dass die Intensivierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien Teil einer Strategie ist, um den Wachstumsbedarf der Schweiz in den nächsten 50 Jahren zu decken, «Die Welt verändert sich und die Beziehungen müssen neu aufgebaut werden», sagt sie. Zumal die Schweiz dank günstiger bilateraler Rahmenbedingungen, die zwischen den beiden Parteien ausgehandelt wurden, in diesem Rennen gut positioniert sei, wie Fabian Maienfisch erklärt.
Sollte man also im Namen der wirtschaftlichen Gesundheit die Augen vor der Menschenrechtsbilanz Saudi-Arabiens verschliessen? Myret Zaki sagt: «Es gibt keine Moral, wenn es um Wirtschaftsinteressen geht. Die hat es nie gegeben. Von keinem Land. Denn das Konzept des Wachstums steht leider oftmals im krassen Gegensatz zur Achtung der Menschenrechte.»