«Bleibt misstrauisch»
Lucia Heilman gehört zu den letzten Überlebenden des Holocaust in Österreich. Noch immer fühlt sie sich nicht sicher – für sie ist die Versöhnung daher nicht erreicht.
Von Antonio Prokscha
«Haben Sie keine Angst, dass sich die Gräueltaten des Holocaust wiederholen könnten?» Diese Frage wird Lucia Heilmann immer wieder gestellt. «Als ich diese Frage das erste Mal gehört habe, war ich entsetzt », sagt Lucia Heilman, die 1929 in Wien geboren wurde. «Obwohl ich dies oft gefragt werde, kann ich keine Antwort finden.»
Bis heute fühlt sich Lucia Heilman in Österreich nicht sicher. Antisemitismus empfindet sie als eine ständige Bedrohung, die nie wirklich verschwunden sei. «Der Antisemitismus schläft nur. Viele erkennen diese Bedrohung nicht oder tun sie als ‹Ansichtssache› ab», sagt sie. Schon nach dem Krieg war es schwer, sich in einem Land zuhause zu fühlen, in dem so viele ihre Verfolgung unterstützt hatten. Ihre Mutter kämpfte lange, um ihre Arbeitsstelle als Chemikerin zurückzubekommen, die enteignete Wohnung erhielten sie erst nach mühsamen Gerichtsverfahren zurück. Auch Lucias Rückkehr in die Schule war von Ablehnung geprägt: «Als ich sagte, ich sei Jüdin, erstarrte die Klasse.»
Lucia Heilman hatte immer wieder Pläne, auszuwandern. Doch sie konnte sich das Medizinstudium nur in Österreich leisten, ausserdem lernte sie ihren Mann kennen, der sich in Österreich ein neues Leben aufbauen wollte. Ihr ganzes Leben lang suchte sie Halt bei anderen jüdischen Menschen. Nur unter ihnen hat sie das Gefühl, frei sprechen zu können und verstanden zu werden.
Versöhnung ist für Lucia Heilman unerreichbar. Der Schmerz und das Leid, die sie erfahren hat, sind zu tief, um daran zu denken: «Für mich persönlich gibt es keine Versöhnung. Wenn man gedemütigt und angespuckt wurde, wie kann man sich mit diesen Menschen versöhnen?»
Lucia Heilman bleibt skeptisch, ob sich die Einstellung gegenüber jüdischen Menschen in Österreich jemals ändern wird. Sie wünscht sich, dass die Menschen zumindest anfangen, den Schaden zu erkennen, den Antisemitismus anrichtet. Ihr Rat an die kommenden Generationen: «Bleibt misstrauisch.»
Fünf Kilometer Konflikte
Die deutsche Sektion von Amnesty International ist innerhalb Berlins in die Sonnenallee umgezogen, Diese ist seit 140 Jahren eine Strasse der Proteste und der politischen Auseinandersetzungen.
Von Maik Söhler
«Freundschaft!» Mit diesem Wort begrüsst in Leander Haussmanns Filmkomödie «Sonnenallee» eine Lehrerin ihre Schulklasse – den Begriff laut und autoritär aussprechend, so dass er wie eine Drohung klingt – der offizielle Ton einer Pädagogin in der DDR der 70er-Jahre.
Amnesty International in Deutschland ist im Sommer 2024 in ebendiese Sonnenallee gezogen. Freundschaft – leise und ohne autoritäre Geste – könnte ein geeignetes Mittel sein, um sich erfolgreich unter all jene zu mischen, die bereits länger in dieser Berliner Strasse mit ihrer wechselhaften und konfliktreichen Geschichte leben.
Seit 140 Jahren schreibt sich die Sonnenallee in die Berliner Stadtgeschichte ein. Sie hat das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Teilung Berlins überlebt, von der sie auch selbst betroffen war: 400 Meter der Strasse im Ostberliner Stadtteil Treptow wurden durch den Bau der Mauer vom Rest der Sonnenallee im Westberliner Stadtteil Neukölln abgetrennt. Und auch der letzte Mauertote ist mit der Sonnenallee verbunden: Chris Gueffroy wurde in der Nacht auf den 6. Februar 1989 beim Versuch, in den Westen zu gelangen, von Grenztruppen der DDR erschossen.
Heute ist die Strasse gekennzeichnet durch ein Sammelsurium aus deutschen, türkischen und arabischen, aus verarmten und mittelständischen, aus alteingesessenen und urban-hippen Milieus, die nebeneinander existieren. Die Sonnenallee bleibt eine Strasse der Proteste und der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Konflikte. Feminist*innen haben das Frauenwahlrecht gefordert, Arbeiter*innen demonstrierten jahrzehntelang für ihre Rechte. Heute gehören Kundgebungen gegen Rassismus zum Alltag.
Leider sind heute auch politische Forderungen zu vernehmen, die die Menschenrechte wie das Recht auf Leben oder die Versammlungs- und Meinungsfreiheit einschränken oder gar abschaffen wollen. Doch die meisten Menschen, die den Alltag in dieser Strasse prägen, geben ihr Bestes, damit das friedliche Zusammenleben gelingt. Ein guter Ort für Amnesty, um die Nachbar*innen mit «Freundschaft!» zu umwerben, die Idee der Menschenrechte zu verbreiten und dabei Konflikte einfach mal auszuhalten. Freundschaft bedeutet ja auch: Man muss sich nicht lieben, Zugewandtheit und Respekt reichen völlig aus.
Ein dunkles Kapitel
In der Schweiz wurden Hunderte von jenischen Kindern zwangsweise ihren Familien weggenommen. Die Aufarbeitung
ist längst nicht abgeschlossen.
Von Baptiste Fellay
Vor 52 Jahren brachte die Zeitschrift «Der Beobachter» den Skandal ans Licht: Pro Juventute hatte während Jahrzehnten jenische Kinder ihren Eltern entrissen und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht – im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung der Behörden. «Das Ziel war die Entfremdung der Kinder von der jenischen Kultur und Sprache», erklärt Thomas Huonker, Spezialist für dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte.
Erst 14 Jahre nach den Enthüllungen, am 3. Juni 1986, entschuldigte sich der Bundespräsident im Namen des Landes für das Unrecht. Der lange Prozess der Aufarbeitung ist auch 2024 noch im Gange: Diesen Sommer haben die jenischen Organisationen einen Antrag auf Anerkennung eines kulturellen Genozids an ihrer Gemeinschaft gestellt.
In der Zwischenkriegszeit waren eugenische Theorien in Mode. So war auch Ulrich Wille, Gründungsmitglied von Pro Juventute, ein Freund von Nazi-Grössen und Befürworter der Eugenik. Die beiden Psychiater Joseph und Johann Benedikt Jörger beförderten die rassistischen Vorurteile mit psychiatrischen «Expertisen»: Eine ethnische Säuberung der jenischen Bevölkerung sei nötig, denn sie seien von Natur aus kriminell und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Um diese «Gefahr zu beseitigen», gründete Pro Juventute auf Antrag des Bundesrats das Projekt «Kinder der Landstrasse»: Bis in die 1970er-Jahre wurden rund 600 Kinder ihren Familien weggenommen. Die meisten wuchsen unter Bedingungen auf, in denen sie körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Viele von ihnen starben jung, manche begingen Suizid.
Eines der betroffenen Kinder war Uschi Waser. Das Mädchen wurde kurz nach ihrer Geburt ihrer Mutter weggenommen und hat ihre Kindheit in vielen verschiedenen Heimen verbringen müssen. «Man ist und bleibt immer eine Jenische und gilt damit als Lügnerin und Diebin», sagt sie heute. Wie steht sie zu den «Wiedergutmachungs- Aktionen» der offiziellen Schweiz? 1988 und 2018 wurden Beträge von bis zu 25 000 Franken an die Opfer gezahlt, und die Jenischen werden als nationale Minderheit anerkannt. «Das ist nicht genug. Der Staat sollte die Kosten für die gesundheitlichen und sozialen Probleme übernehmen, unter welchen die Opfer noch immer leiden», sagt Uschi Waser. Für sie ist die Erinnerungsarbeit das Wichtigste: «In den Schulen, in denen ich Vorträge halte, kennt man diese Geschichte nicht. Es ist daher unerlässlich, dass das Wissen über dieses grosse Unrecht in den Unterricht integriert wird.»
Für Thomas Huonker ist klar, dass die Verfolgung der Jenischen mehrere Tatbestandsmerkmale des Völkermords gemäss der Uno-Genozidkonvention umfasst. «Eine Versöhnung wird nur auf der Grundlage der Anerkennung dieser Verfolgung als versuchter Völkermord und der daraus resultierenden Garantien möglich sein.»