© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Dezember 2024 – Brennpunkt DEM SCHWEIGEN ENTGEGENSTEHEN

Von Veronika Velch. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2024.
Veronika Velch hat im April die Leitung der ukrainischen Sektion von Amnesty International übernommen. Sie erklärt, warum dieser Job so viel mehr ist als ein Karriereschritt. Und warum es wichtig ist, die Aufmerksamkeit weiter auf die Ukraine zu lenken.

Dass ich im April dieses Jahres die Leitung der ukrainischen Sektion von Amnesty International übernommen habe, war nicht bloss ein Berufsentscheid in meiner Karriere. Dass ich diese Stelle antrat, sehe ich vielmehr als Ausdruck meines tiefen Engagements für die Menschenrechte – und das in einer der kritischsten Zeiten in der Geschichte meines Landes. Die Aufgabe der ukrainischen Sektion sehe ich gegenwärtig vor allem darin, der Stimme der Ukraine im globalen Diskurs Gehör zu verschaffen. Nachdem wir wegen des Krieges jahrelang aus der Ferne arbeiten mussten, sind wir nun wieder vor Ort tätig. In diesem Land, das jeden Tag unter Beschuss steht, lernen die Kinder in Kellern, und unsere Männer (und viele ukrainische Frauen) kämpfen derzeit an der Front. Mein Mann ist oft mehrere Tage lang nicht zu erreichen, wenn er im Einsatz ist. Für meinen kleinen Sohn existiert er hauptsächlich auf dem Bildschirm des Telefons.

Jeden Tag verlieren wir Freund*innen und Bekannte. Auch Menschen, die wir nicht kennen, die uns aber wichtig sind – Kamerad*innen unserer Lieben, die zu den Waffen griffen, oder einfach Mitmenschen in unseren vormals friedlichen Städten. Das ist schrecklich.

«Der Schwerpunkt unserer Arbeit heute auf den Rechten der ukrainischen Kriegsgefangenen.»

Doch unser Schicksal ist bei weitem nicht das Schlimmste. Wir wissen, was in den von Russland besetzten Gebieten geschieht: Entführung von Kindern, Folter, Hinrichtungen. Wir sind wenigstens frei. Wir werden nicht geschlagen, vergewaltigt oder erschossen. Wir verhungern nicht. Anders als Hunderttausende Menschen, die unter der Besatzung leben. Anders als die Zehntausenden von zivilen Gefangenen und Kriegsgefangenen in russischen Gefängnissen. Deshalb liegt der Schwerpunkt unserer Arbeit heute auf den Rechten der ukrainischen Kriegsgefangenen – Menschen, die uns selbstlos verteidigt haben. Jetzt brauchen sie im Gegenzug dringend unsere Verteidigung.

Wir sprechen mit den Familien von Kriegsgefangenen und mit ehemaligen Kriegsgefangenen. Ihre Berichte sind entsetzlich – von Hinrichtungen, die mit der Kamera gefilmt wurden, bis hin zur Vergewaltigung von Soldaten vor den Augen ihrer Kameradinnen. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die gegen Krebs kämpft, während ihr Mann in Gefangenschaft ist. Wir haben mit einer Mutter gesprochen, die die Kinder ihrer Tochter allein aufzieht, während ihre Tochter in Einzelhaft sitzt. Wir haben mit den Eltern zweier Soldaten gesprochen, von denen einer tot sein soll und der andere in Gefangenschaft ist. Die Eltern hoffen, dass beide heimkehren.

«In einer Situation, in der unser Nachbarstaat alles missachtet – jegliche Regeln der Kriegsführung, jegliche Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen und jegliche Genfer Konventionen – ist Sichtbarkeit vielleicht das Einzige, was wir verlangen können.»

Noch immer gibt es eine grosse Zahl von unbestätigten Kriegsgefangenen. Laut Aussagen der ausgetauschten Personen und Propagandavideos befinden sie sich in Russland, aber offiziell ist es nicht. Werden sie jemals nach Hause kommen? So viele Fragen ohne Antworten. Viele werden nicht mehr gestellt, weil unser Krieg in Vergessenheit gerät. Unsere Kinder, die im Schlaf von Raketen getötet werden, und unsere Städte ohne Licht und Wärme schaffen es nicht mehr auf die Titelseiten der Zeitungen.

In einer Situation, in der unser Nachbarstaat alles missachtet – jegliche Regeln der Kriegsführung, jegliche Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen und jegliche Genfer Konventionen – ist Sichtbarkeit vielleicht das Einzige, was wir verlangen können. Wir müssen verhindern, dass dies alles in Dunkelheit und Schweigen geschieht. Wie der Autor und Aktivist Elie Wiesel sagte: «Schweigen ermutigt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.» Lassen Sie uns gemeinsam unsere Stimme erheben und dafür sorgen, dass die Wahrheit gehört und nicht vergessen wird.

Helfen Sie uns, laut über unsere Situation zu sprechen, auch wenn Sie es leid sind. Wir sind auch müde, nach einer weiteren Nacht unter Beschuss. Aber wir können nicht aufhören zu reden. Denn für uns sind die Menschenrechte nicht mehr nur eine Berufswahl, sondern eine Entscheidung zwischen Überleben und Tod.