«Wir mussten immer beten, kniend. Sie sagten uns, wir seien kleine, dumme Wilde, die erzogen werden müssten», sagte Elaine Durocher.
«Wir haben viel gearbeitet, in der Molkerei und im Hühnerstall. Dazu kam die Hausarbeit: waschen, putzen, kochen», sagte Josephine Eshkibok.
«Die Schulleiterin steckte ein grosses Stück Seife in meinen Mund, als sie mich erwischte, wie ich meine Sprache sprach. Sie presste ihre Hand auf meinen Mund, als ich die Seife kaute. Ich musste schlucken. Sie sagte mir, sie habe meinen Mund waschen müssen, da ich die schmutzige Sprache des Teufels benutzt hätte», sagte Pierrette Benjamin.
Elaine Durocher, Josephine Eshkibok und Pierrette Benjamin zählen zu den mehr als 150'000 Indigenen, die zwischen 1850 und 1996 als Kinder von ihren Eltern getrennt und in Internate gesteckt wurden, sogenannte Residential Schools. Die Heime wurden von der kanadischen Regierung und der katholischen Kirche betrieben, um die Schüler*innen an die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Die Kinder mussten Englisch sprechen, wurden körperlich und psychisch misshandelt, mussten schuften. Nach Angaben der kanadischen Regierung starben 3201 Schüler*innen in den Erziehungsanstalten.
Dass die Aussagen von Überlebenden an die Öffentlichkeit kamen, ist auch der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) zu verdanken, die 2008 gegründet wurde. Denn bis in die 1990er-Jahre hatten die kanadische Regierung und die katholische Kirche die Zustände in den Residential Schools geheim gehalten und Aussagen von Überlebenden als übertrieben abgetan. Erst nachdem Phil Fontaine, ein Chief aus Manitoba, im Jahr 1990 öffentlich über seine Erfahrungen an der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg sprach, machten viele Überlebende ihre Geschichten publik. Bis 2007 reichten 15'000 Personen Klage wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs an den Residential Schools ein. Die Regierung war gezwungen zu handeln. Der damalige Premierminister Stephen Harper entschuldigte sich 2008 offiziell für die Politik der Assimilation, die sich bis heute negativ auf indigene Gemeinschaften auswirkt. Im selben Jahr nahm die TRC ihre Arbeit auf.
Durchmischte Bilanz
Die Erwartungen an in die TRC waren gross: Die Mehrheit der Bevölkerung fand es wichtig, dass die dunkle Vergangenheit ans Licht kam. Der Kommission ging es weniger um Anprangerung und Zuschreibung von Schuld, sondern vielmehr darum, ein sicheres Forum zu schaffen, in dem Beschwerden geäussert und zu Protokoll gegeben werden konnten. Mehr als 6500 Überlebende erzählten dort ihre Geschichte und enthüllten erschütternde Details über das Leben in den Residential Schools. Ihre Aussagen wurden im Fernsehen ausgestrahlt und im ganzen Land verbreitet.
Betroffene weigerten sich, bei der TRC auszusagen, weil sie der kanadischen Regierung nicht vertrauten. Viele hatten Angst, sich erneut in einer Opferrolle wiederzufinden.
Doch es gab auch Widerstand. Die Regierung zensierte Dokumente, die sie selbst belastet hätten, die Kirche weigerte sich, gewisse Daten herauszugeben, Akten wurden vernichtet. Betroffene weigerten sich, bei der TRC auszusagen, weil sie der kanadischen Regierung nicht vertrauten. Viele hatten Angst, sich erneut in einer Opferrolle wiederzufinden. Mehrere indigene Gemeinschaften kritisierten, dass die TRC sich auf die Residential Schools konzentriere, den kolonialen Hintergrund und den andauernden institutionalisierten Rassismus jedoch nicht einbeziehe.
Der Schlussbericht der TRC umfasste nicht nur die Geschichten der Überlebenden, sondern auch 94 Vorschläge, wie das Geschehene aufgearbeitet werden könnte. So wurde etwa eine Untersuchung von Tötungen und Verschwindenlassen von indigenen Frauen und Mädchen gefordert. Premierminister Justin Trudeau hatte 2015 versprochen, diese Vorschläge umzusetzen. Bis Ende 2023 wurden laut dem kanadischen Medienhaus CBC jedoch nur 13 Vorschläge komplett umgesetzt, 18 Vorschläge wurden noch gar nicht angegangen. «Die Regierung greift auf aufmerksamkeitsheischende Symbolpolitik zurück, setzt aber kaum substanzielle Reformen durch», sagt Guy Freedman, ein Berater für indigene Angelegenheiten. «Indigene werden in Kanada systematisch benachteiligt, so haben mehr als 60 indigene Gemeinden keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Solange sich ihre Lebensumstände nicht bessern, ist eine langfristige Heilung schwierig.»
Tatsächlich geriet der Prozess zur Umsetzung der 94 Forderungen nach der anfänglichen Euphorie merklich ins Stocken. Eine Studie des Yellowhead Institute, eines von indigenen Völkern geleiteten Forschungs- und Bildungszentrums, berechnete, dass es beim derzeitigen Tempo bis 2081 dauern könne, bis alle Empfehlungen umgesetzt seien. «Kanada muss akzeptieren, dass es viele institutionalisierte Systeme gibt, die Indigenen aktiv schaden. Ansonsten kann die Diskussion über Versöhnung nicht weiterkommen», schreiben Eva Jewell und Ian Mosby in ihrem Bericht für das Yellowhead Institute.
Kein Allheilmittel
Weltweit gab es bislang mehr als 50 Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Doch viele von ihnen führten zu Enttäuschungen. Die erste wurde in Uganda eingesetzt. Sie sollte Fälle von Tötungen und Verschwindenlassen durch die Regierung untersuchen, endete 1974 aber ohne konkrete Forderungen, ein Bericht wurde nie erstellt. Auch die weltweit wohl bekannteste der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, welche die Verbrechen während der Apartheid in Südafrika aufarbeiten sollte, rief Kritik hervor. Bemängelt wurde vor allem, dass die Täter*innen nach öffentlichen Reuebekundungen begnadigt wurden und die Opfer keine angemessene Entschädigung erhielten. Dennoch war das Ergebnis dieser Kommission historisch bedeutsam: Erstmals wurden die Apartheidverbrechen in Südafrika öffentlich bezeugt und als Menschenrechtsverbrechen anerkannt.
Obwohl sie kein Allheilmittel sind, haben Wahrheitskommissionen Gesellschaften geholfen, kollektive Traumata und Missbrauch aufzuarbeiten und scheinbar unlösbare Konflikte anzugehen, indem sie systembedingte Ungerechtigkeiten öffentlich anerkennen. Klar ist: Für ein erfolgreiches Zusammenleben nach einer traumatischen Vergangenheit braucht es mehr als die Anwendung des Strafrechts. Wahrheitskommissionen wollen den komplexen Prozess der «Vergangenheitsbewältigung» nicht allein mit der Bestrafung der Täter*innen vorantreiben, sondern auch ermitteln, wie es dazu kommen konnte. Denn nur so kann verhindert werden, dass sich die Geschichte wiederholt.
Tatsächlich können Wahrheitskommissionen positive Veränderungen mit sich bringen. So unterzeichnete das kanadische Parlament fünfeinhalb Jahre nach dem Schlussbericht der TRC im Juni 2021 die «Uno-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker». Diese anerkennt das Recht auf Selbstbestimmung und Erhalt indigener Kulturen und verbietet Diskriminierung und Marginalisierung. Bereits zwei Jahre zuvor hatte die Regierung den Indigenous Languages Act erlassen, der den Gebrauch von indigenen Sprachen fördern soll. Auch führte die Aufarbeitung der Geschichte der Residential Schools dazu, dass der Papst sich im Juli 2022 für die Vergehen der Kirche entschuldigte.
Diese Entwicklungen inspirierten Länder wie Australien und Neuseeland dazu, sich mit der eigenen Vergangenheit und den Verbrechen an den indigenen Völkern auseinanderzusetzen. Dennoch: Es gibt kein Patentrezept, das Erfolg garantiert. «Jede Wahrheitskommission muss sich selbst erfinden», sagte Marie Wilson, die die Kommission in Kanada mitleitete, im Jahr 2020. Doch sollten alle Kommissionen die Opfer in den Mittelpunkt rücken. Erst dann eröffne sich ein Raum für Dialoge über Mitgefühl, über Verantwortung, über Transformation.