Die neuen Hochhaus-Quartiere verdrängen die Siedlungen der Armen in Addis Abeba. © Andrzej Rybak
Die neuen Hochhaus-Quartiere verdrängen die Siedlungen der Armen in Addis Abeba. © Andrzej Rybak

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Dezember 2024 – Äthiopien Frieden ist anderswo

Von Andrzej Rybak. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2024.
Der Krieg in Äthiopien wurde Anfang 2023 offiziell beendet. Doch die Kämpfe dauern an, und die Repression gegen die Zivilgesellschaft nimmt drastisch zu.

Medina sah die Soldaten nicht kommen.  Sie waren zu viert, packten sie an den Armen und zerrten sie in eine Hütte am Strassenrand. «Sie fesselten mir die Hände auf dem Rücken, schoben ein dreckiges Tuch in meinen Mund und warfen mich zu Boden», erzählt die  28-Jährige. «Dann vergewaltigten sie  mich, einer nach dem anderen.» 

Medinas Stimme bricht. Drei Jahre nach dem Überfall spürt sie immer noch  den Schmerz und die Scham – als wäre  alles erst gestern passiert. Sie will, dass die Welt vom Leid der Frauen in ihrer  Heimat erfährt. «Ich werde dafür kämpfen, dass die Männer, die uns das angetan  haben, im Gefängnis landen», sagt  sie. «Die Frauen von Tigray wollen Gerechtigkeit.» 

Verbote und Vertreibungen 

Im Herbst 2020 brach ein Krieg zwischen  der Regionalregierung in Tigray  und der Zentralregierung in Äthiopien  aus. Die äthiopische Armee wurde unterstützt  von Streitkräften des Nachbarstaats Eritrea und der amharischen Fano-Miliz, die sich aus Angehörigen der  Bevölkerungsgruppe der Amhara zusammensetzt. 

Die äthiopischen Bundesstaaten Tigray, Amhara und Oromia: Die nach Ethnien eingerichtete föderale Struktur schafft Probleme. © Amnesty International / müllerlütolf

Es war eine unheilvolle Allianz, die  mordend und plündernd durchs Land  zog. Während des zwei Jahre dauernden  Kriegs in Tigray wurden mehr als  600'000 Menschen getötet, mehr als  120'000 Frauen vergewaltigt und fast  zwei Millionen Menschen vertrieben. Die Tigrayer*innen sprechen von versuchtem  Völkermord, doch die äthiopische  Regierung scheint nicht bereit zu  sein, ihre Einsatzkräfte für die Kriegsverbrechen  zur Rechenschaft zu ziehen. 

Obwohl die Regierung vor zwei Jahren  ein Friedensabkommen mit Tigray unterzeichnete,  sind die Armee und die Fano-Miliz im westlichen Teil und auch in einigen  Gebieten im Süden des Bundesstaats  immer noch präsent. Die amharische Miliz würde Westtigray gern ihrem Bundesstaat  zuschlagen, sie verbietet den Gebrauch  der Sprache Tigrinya und vertreibt  Tigrayer*innen. «Bei uns in Shire gibt es  überall Lager mit insgesamt mehr als  300'000 Vertriebenen aus Westtigray», sagt Medina. «Sie können nicht zurück,  ihre Häuser und ihr Land wurden von  Amhara-Bäuer*innen besetzt.» 

In den Flüchtlingslagern, wie in diesem bei Mekelle in Tigray, herrschen Hunger und Armut. © Andrzej Rybak

In den Lagern herrscht bittere Armut,  die Lebensmittelhilfen reichen nicht aus,  Kinder leiden Hunger. Am Rande von Tigrays  Hauptstadt Mekelle leben bis zu  20 000 Flüchtlinge in einem Camp, das  sich bei starkem Regen in einen Sumpf  verwandelt. 

Frauen wie Medina müssen oft allein  zurechtkommen. Medinas Mann schloss  sich zu Beginn des Kriegs dem Widerstand  an und wurde getötet. Ihre Familie  hielt zu ihr und pflegte sie, als sie nach  der Vergewaltigung wegen einer schweren  Sepsis monatelang im Bett bleiben  musste. In Shire wurden alle medizinischen  Einrichtungen verwüstet, es gab  keine medizinischen Fachleute, die sie  behandeln konnten. 

Immer wieder neue Kämpfe 

Der Krieg hinterliess überall in Tigray  grosse Schäden, Soldat*innen plünderten  Geschäfte und Fabriken, auch in Wukro,  das 70 Kilometer von Mekelle entfernt  liegt. Vor dem Krieg erlebte Wukro einen  wirtschaftlichen Aufschwung, die Stadt  profitierte von ihrer Lage an der Strasse  zwischen Mekelle und Eritrea. «Heute  sind hier neun von zehn Menschen von  internationalen Hilfslieferungen abhängig», sagt Yared Berhe Gebrelibanos, Geschäftsführer  der Allianz zivilgesellschaftlicher  Organisationen in Tigray.  «Die Menschen kämpfen ums Überleben, kaum jemand hat ein Einkommen,  und die Sicherheitslage ist katastrophal.» 

Ausserdem stellt sich die Frage: Wird  der Frieden halten? Als Abiy Ahmed  2018 Präsident wurde, galt er als Hoffnungsträger.  «Viele haben auf politische  Veränderungen gehofft», sagt Befekadu  Hailu, Geschäftsführer des Zentrums für  die Förderung von Rechten und Demokratie (CARD) in Addis Abeba. «Er liess  politische  Gefangene frei, kündigte Reformen  an, versprach Pressefreiheit.»  Politiker*innen  verschiedener ethnischer  Gruppen  unterstützten ihn, selbst Parlamentsabgeordnete  aus Tigray stimmten  für ihn, obwohl Abiy Ahmed die Dominanz  Tigrays in der äthiopischen Politik  nach fast 30 Jahren beendete. 2018  schloss er einen Friedensvertrag mit Eritrea  und wurde dafür 2019 mit dem Friedensnobelpreis  ausgezeichnet. 

Doch dann begann Abiy Ahmed, seine  Macht auszubauen. «Er hat die Krise verschuldet», urteilt Befekadu Hailu, der als  regierungskritischer Blogger in den Jahren  2014 und 2015 im Gefängnis sass  und danach zum Menschenrechtsverteidiger  wurde. «Schon kurz nach seinem  Amtsantritt kam es zu ersten ethnischen  Massakern, die auf das Konto der Regierung  gehen.» Mit dem Feldzug gegen Tigray  erfasste die Gewalt das ganze Land. 

Von Präsident Abiy Ahmed enttäuscht: Befekadu Hailu, Geschäftsführer des Zentrums für die Förderung von Rechten und Demokratie. © Andrzej Rybak

Ein Bericht von Amnesty International  aus dem Jahr 2022 belegt, dass nicht nur  Regierungssoldat*innen, sondern auch  Soldaten aus Tigray Massaker in anderen  Teilen Äthiopiens begingen. Und sogar  nach dem Friedensschluss ging es weiter:  Die Milizen der Amhara, allen voran die  Fano-Miliz, stellten sich enttäuscht gegen  die Regierung. «Die Milizionäre der Fano  erhofften sich territoriale Gewinne und  mehr Eigenständigkeit», sagt Hailu. «Den  Frieden empfinden sie als Verrat.» 

Ausser Kontrolle

Seitdem liefern  sich amharische Fano-Milizen und Regierungstruppen  regelmässig Kämpfe. Die Milizen blockieren Hauptstrassen  und lähmen das Land. Die Armee schlägt  zurück und tötet mancherorts die Dorfbevölkerung,  wenn diese Kämpfern Zuflucht  gewährt. Selbst in grösseren Städten  wie Bahir Dar und Gonder kommt es  zu Kämpfen. Gemäss einem Bericht von  Human Rights Watch, der der Uno-Generalversammlung  im September 2024  vorgestellt wurde, wurden seit August  2023 mehr als 2000 Zivilpersonen in  Amhara getötet. 

«Die Lage in Äthiopien ist ausser Kontrolle», sagt der Menschenrechtsverteidiger  Hailu. «Die Geheimpolizei gehen  brutal gegen alle vor, die sie zur Opposition  zählen. Es gibt Morde, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen. In den  Gefängnissen wird gefoltert, Menschen verschwinden spurlos. Gewaltsame Umsiedlungen  gehören zum Alltag. Ich kenne  kaum eine Straftat, die nicht verübt  wird – und das in jedem Landesteil.» 

Die Regierung verhängte im August  2023 den Ausnahmezustand in Amhara,  der ihr erlaubte, Tausende Menschen  willkürlich und ohne Anklage zu inhaftieren.  Er lief zwar im Juni 2024 formell  aus, wurde aber offiziell nicht aufgehoben. 

Nicht nur die Regierung ist für Menschenrechtsverletzungen  verantwortlich: Häufig kommt es zu Gewaltausbrüchen  zwischen ethnischen Gruppen. Politiker*  innen  und Milizionäre der Amhara, die im äthiopischen Kaiserreich viel Macht und Einfluss besassen, wollen die  alten Verhältnisse wieder herstellen. Politiker*innen der Bevölkerungsgruppe der Oromo werfen der Amhara-Minderheit  in ihrem Bundesstaat vor, in der Kaiserzeit  Land besetzt zu haben, und drohen  mit Vertreibung. Im Juni 2022  töteten Kämpfer der Oromo Liberation  Front (OLF) 400 Amhara-Bäuer*innen in  Tole Kebele. 

Die Oromo sind mit fast 35 Prozent  die grösste Bevölkerungsgruppe Äthiopiens. Sie erhielten erst nach dem Sturz  der kommunistischen Regierung im Jahr  1991 einen eigenen Bundesstaat und  streben nach mehr Selbstständigkeit. Von Abiy Ahmed, der Oromo ist, erhofften  sie sich politische Vorteile, doch diese  Hoffnung wurde enttäuscht. Deshalb unterstützten viele Oromo Tigray im  Kampf gegen die Zentralregierung. Seit  2018 wurden immer wieder Oromo- Aktivist*innen und Politiker*innen ermordet – womöglich auf Befehl der Regierung.  Im April 2024 wurde Bate  Urgessa, ein führender OLF-Politiker, tot  in einem Strassengraben gefunden,  nachdem er am Abend zuvor von Regierungssoldaten  entführt worden war. 

Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen, die solche Verbrechen dokumentieren wollen, leben gefährlich. Im Juni 2024 musste Dan Yirga, der geschäftsführende  Direktor des Äthiopischen  Menschenrechtsrats, das Land  Hals über Kopf verlassen. «Die Polizei  bedrohte mich massiv», sagt er. «Sie haben  mir zu verstehen gegeben, dass sie  mich töten werden, wenn ich weitermache.» Zweimal sei er nur knapp einem  Anschlag entkommen, Agent*innen hätten ihn beschattet und nachts zu Hause  aufgesucht. 

Derzeit lebt Dan Yirga in Nairobi.  «Meine Kolleg*innen in Äthiopien versuchen  ihre Arbeit fortzusetzen, obwohl die  Regierung gegen sie vorgeht», sagt er. «Der Ministerpräsident beschuldigt die  Zivilgesellschaft aller möglichen Verbrechen  und stellt Menschenrechtler*innen  als vom Ausland bezahlte Agent*innen  dar, die gegen das Wohl des Landes arbeiten.  » Auch die Mitarbeiter*innen der Nichtregierungsorganisation CARD bekommen  Drohanrufe und werden eingeschüchtert.  «Agent*innen versuchen unsere Veranstaltungen zu stören, indem sie  Leute bedrohen, die uns Räume vermieten», erzählt Geschäftsführer Befekadu  Hailu. «Manchmal brechen sie in unsere  Büros ein und stehlen unsere Computer,  manchmal verhängen sie Geldstrafen.»  Die Menschenrechtsverteidiger*innen riskieren  täglich eine Festnahme. 

Mehr Druck nötig

Viele Expert*innen  erkennen im ethnischen Föderalismus,  der in der äthiopischen Verfassung  verankert ist, einen wichtigen  Grund für die Probleme. «Die Verfassung  schafft ethnische Bundesstaaten,  die über viele Rechte verfügen», sagt Hailu.  «Wir brauchen Föderalismus, aber einen, der nicht mit ethnischer Zugehörigkeit verbunden ist.» Politische Gruppierungen  werden in Äthiopien oft auf  ethnischer Basis gebildet; sie bekämpfen  andere Gruppen, um an die Macht zu  kommen. Menschenrechtsverteidiger*innen  appellieren an den Westen, mehr  Druck auf die Regierung auszuüben, damit  die Gewalt aufhört. «Äthiopien ist  auf ausländische Hilfe angewiesen», sagt Dan Yirga. «Die europäischen Staaten  müssen die Einhaltung der Menschenrechte,  die Bestrafung von Kriegsverbrechen  und die Rückkehr zu demokratischen  Standards zur Bedingung für  weitere Unterstützung machen.» Doch  die internationale Gemeinschaft, von Kriegen in der Ukraine und im Nahen  Osten abgelenkt, scheint die Menschenrechtsverletzungen  durch die Regierung  ignorieren zu wollen. 

In der Hauptstadt Addis Abeba, in der  rund 3,5 Millionen Menschen aus allen  ethnischen Gruppen leben, ist die Gewalt,  die die Provinzen erschüttert, kaum  zu spüren. Aber auch hier hat der Krieg  Narben hinterlassen. «Wir leben in  Angst», sagt die Tigrayerin Mariam, die  einst als Ärztin in einem Krankenhaus  arbeitete. Während des Kriegs wurde sie vom Geheimdienst abgeholt und ins Gefängnis  gesteckt. «Niemand erklärte mir,  warum ich inhaftiert wurde, es gab keine  Anklage», sagt sie. «Ich sass mit Dutzenden  anderen Frauen in einer Zelle und  wurde immer wieder verhört.» 

Nach drei Monaten kam sie frei, psychisch schwer gezeichnet. «Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich aus dem  Haus gehe oder wenn ich am Telefon Tigrinya  spreche», klagt Mariam. «Ich misstraue inzwischen sogar Menschen, die ich seit Jahren kenne – vor allem, wenn sie  Amhara oder Oromo sind.» 

Nicht nur Menschen aus Tigray haben  in Addis Abeba Probleme mit den Behörden. Ministerpräsident Abiy Ahmed will die Hauptstadt zur modernsten Stadt des Kontinents machen und lässt dafür Zehntausende Menschen zwangsweise umsiedeln. Im historischen Piassa-Viertel  im Zentrum, wo es einst von Geschäften  und Cafés wimmelte, mussten Hunderte Häuser neuen Wohnblocks und  Regierungsbauten weichen. Anfang des  Jahres fuhren Dutzende Bulldozer auf  und planierten grosse Teile des Viertels. «Die Regierung zerstört Existenzen», sagt Dan Yirga. «Als unsere Mitarbeiter*innen den Zerstörungswahn dokumentieren  wollten, wurden sie festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.» 

Die Vertriebenen in Addis Abeba wissen nicht wohin. © Andrzej Rybak

Viele der umgesiedelten Familien wohnten seit Generationen im Viertel, sie betrieben Werkstätten, Bäckereien,  Geldwechselstuben oder Textilläden. Nun müssen die meisten in halbfertige Wohnblocks am Stadtrand ziehen, wo es  weder Schulen für die Kinder noch Arbeit für die Erwachsenen gibt. Im Oktober  begannen die Behörden, auch im  Stadtteil Kazanchis Häuser abzureissen und Menschen umzusiedeln. «Alles, was  ich mir aufgebaut habe, wird nun zerstört», schimpft Dawitii. Sein kleiner  Obstladen liegt in Trümmern. «Die Regierung hat uns erst Wasser und Strom abgestellt, dann begann der Abriss. Wie soll ich jetzt meine Familie ernähren?»