Kriege und Konflikte nahmen in den vergangenen Jahren zu. Die Zahl der Menschen, die in Konflikten sterben, ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Wird der Weltfrieden immer mehr zur Utopie?
Für mich sind Utopie und Frieden keine fiktiven, unerreichbaren Orte. Wir haben die Aufgabe und die Verantwortung, die Samen des Friedens und der radikalen Vorstellungskraft zu säen, um dorthin zu gelangen. Wie würden Sie als Wissenschaftlerin Frieden definieren? Frieden wird oft als das Ende eines Konfliktes verstanden. Doch das Ende eines Konfliktes ist oft fliessend und schwer zu definieren. Selbst in Nachkriegskontexten kann es noch zu Konflikten kommen. Es ist wichtig, Frieden nicht als ein festes Ziel zu verstehen, das einmal erreicht wird und dann für immer bestehen bleibt. Wir müssen ihn als dynamisch und verletzlich begreifen.
«Es ist wichtig, Frieden nicht als ein festes Ziel zu verstehen, das einmal erreicht wird und dann für immer bestehen bleibt. Wir müssen ihn als dynamisch und verletzlich begreifen.»
Was braucht es, um nachhaltige Friedensprozesse zu fördern, und welche verschiedenen Ansätze gibt es dafür?
Der Diskurs über Aufarbeitung umfasst viele Aspekte wie Reformen, Wiedergutmachung und Versöhnung. Das Konzept der Übergangsjustiz beschreibt die Idee eines Staates, der sich nach einem Krieg oder Konflikt an Reformen beteiligt. Dies umfasst institutionelle Reformen, Wahrheitskommissionen oder Strafverfolgung, oft auch unter Beteiligung von internationalen Akteur*innen wie dem Internationalen Strafgerichtshof. Transformative Gerechtigkeit geht noch weiter und betont die Einbindung lokaler Gemeinschaften in den Friedensprozess. Es geht nicht nur um nationale oder internationale Ebenen, sondern auch darum, wie lokale Akteur*innen, NGOs und Gemeinschaften in den Friedensprozess einbezogen werden.
Gibt es neue Konzepte in der Friedensforschung, die mehr Beachtung brauchen?
Etwas, das meine Arbeit und mein Verständnis von Friedensförderung heute prägt, ist das Konzept der Intersektionalität. Dieser von der Juraprofessorin Kimberlé Crenshaw geprägte Ansatz zeigt, wie sich verschiedene Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Klasse und Sexismus mit unterschiedlichen Formen der Diskriminierung überschneiden. Wir müssen auch die Komplexität von Konflikten verstehen und wie Menschen mit sich überschneidenden marginalisierten Identitäten auf besondere Weise von Konflikten und Kriegen betroffen sind. Zugleich sind Konflikte mehr als nur Identitätspolitik. Sie beruhen auf sich überschneidenden Aspekten wie Identität, Land, Ressourcen, Territorium oder Ideologien. Um voranzukommen, müssen wir die bestehenden Mechanismen und Institutionen prüfen und darüber nachdenken, wie sie die Friedenskonsolidierung unterstützen können, aber auch, wo sie ihre Grenzen haben. Wir müssen bereit sein, neue Mechanismen und Institutionen zu entwickeln, um dem hohen Mass an Gewalt und Konflikten, das wir heute erleben, entgegenzuwirken.
Welche Rolle spielt Versöhnung in der Aufarbeitung von Konflikten?
Versöhnung hat viele Pfeiler, darunter verschiedene Formen von Reformen und Elementen der Wiedergutmachung. Die Herausforderung besteht darin, dass es kein Patentrezept für Versöhnung gibt. Wie Versöhnung stattfinden kann, hat oft viel damit zu tun, wie ein Krieg beendet wird. In Sri Lanka beispielsweise, wo ich viele Jahre geforscht habe, endete der Bürgerkrieg mit einer militärischen Niederlage der einen Konfliktpartei. Trotz des Kriegsendes dauerten Konflikte und Proteste an. Doch es gibt auch andere Lösungen mit besseren Chancen für einen nachhaltigen Frieden: In Südafrika etwa gab es nach Beendigung der Apartheid einen umfassenden nationalen Versöhnungsprozess, der mit einem Waffenstillstand, einer Wahrheitskommission und demokratischen Wahlen verbunden war. Dort gab es eine Transformation, die auf Reformen und Wiedergutmachung aufbaute. Doch auch hier war der Weg nicht frei von Fehlern.
Junge Menschen spielen eine entscheidende Rolle in der Friedensförderung.
Gibt es bestimmte gesellschaftliche Werte oder Prinzipien, die aus Ihrer Sicht entscheidend sind, um eine Kultur des Friedens zu schaffen?
Wir reden viel über Gleichheit – gleiche Rechte, gleiche Chancen, gleicher Zugang –, aber für mich ist Gerechtigkeit ein ebenso wichtiger Wert. Wenn wir über demokratische Werte sprechen, betonen wir häufig die Gleichheit und vergessen dabei die Gerechtigkeit. Der grundlegende Anspruch muss darin bestehen, Ansätze zu entwickeln, die unterschiedliche Bedürfnisse anerkennen und wertschätzen, ohne sie abzuwerten. Junge Menschen spielen eine entscheidende Rolle in der Friedensförderung.
Wie können wir die nächste Generation ermutigen, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen?
Bildung spielt eine Schlüsselrolle, sowohl im schulischen als auch im ausserschulischen Bereich. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel: Trotz der Zerstörung von Schulen werden alternative Räume für Bildung geschaffen, um sicherzustellen, dass Kinder weiterhin lernen. Diese Kinder werden später die Gesellschaft wieder aufbauen. Ohne Bildung wird es sehr schwierig sein, eine friedliche Zukunft zu gestalten.
Wie wichtig ist es für uns alle, die eigene Geschichte und Kultur zu verstehen, um Frieden und Versöhnung zu fördern
Geschichte ist wichtig, aber wir müssen auch in der Gegenwart leben und mit einem visionären Blick in die Zukunft schauen. Besonders in Gemeinschaften, deren Geschichte ausgelöscht wurde wie in afroamerikanischen oder indigenen Gesellschaften, kann das Wissen um die eigene Vergangenheit oft fehlen. Wir müssen also gleichzeitig offen für eine Zukunft sein, die über unsere Geschichte hinausgeht. Es reicht nicht, sich nur auf die Vergangenheit zu stützen, um Frieden zu schaffen.
Frieden und Versöhnung: Was heisst das genau?
Begriffe wie Frieden und Versöhnung haben im Zusammenhang mit Menschenrechten eine leicht andere Bedeutung als in der Umgangssprache. Daher hier einige Erläuterungen:
Frieden ist die Abwesenheit von gewaltsamen Konflikten oder Krieg. Frieden ist ein Zustand, in dem auftretenden Differenzen zwischen Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten auf der Basis von Rechten und Gesetzen und ohne Gewalt begegnet wird. Friedensförderung umfasst alle Massnahmen, die nach der Beendigung der Gewalt die nachhaltige friedliche Entwicklung gewährleisten sollen. Dazu gehören etwa die Wiederherstellung von zerstörter Infrastruktur, die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sowie Versöhnungsprojekte und die Betreuung von Kriegsopfern.
Versöhnung bezeichnet den Prozess der Wiederherstellung von verletzten oder zerstörten Beziehungen nach einem Konflikt. Versöhnung bedingt, dass die Konfliktparteien aktiv aufeinander zugehen.
In der internationalen Politik wird häufig der Begriff «reconciliation» für Versöhnungsprozesse nach einem gewalttätigen Konflikt oder in Gesellschaften, die sich im Übergang zu einer demokratischen Regierungsform befinden, genutzt.
Häufig wird auch der Begriff der «transitional justice» angewendet, wenn es um die Aufarbeitung von Verbrechen, die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen oder die Reparationen für Opfer von Gewalt geht.
Wahrheitskommissionen sind Organe, die zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen eingerichtet werden, die entweder vom Militär oder von anderen Regierungseinheiten oder aber von der bewaffneten Opposition begangen worden sind. Wahrheitskommissionen werden offiziell vom Staat oder den Vereinten Nationen ermächtigt und untersuchen Menschenrechtsverbrechen, indem sie Fakten, Ursachen und Folgen vergangener Menschenrechtsverletzungen aufklären und dazu die Erfahrungen der Betroffenen zusammentragen. Wahrheitskommissionen sind keine ständigen Einrichtungen, sondern existieren lediglich für einen vorher festgelegten, begrenzten Zeitraum, der in der Regel mit der Übermittlung eines Berichts endet.
(nwe)