Sie sind jetzt in Deutschland. Wie fühlt es sich an, wieder frei zu sein?
Das ist die Frage, die mir derzeit am häufigsten gestellt wird. Mittlerweile kann ich sagen, dass ich nicht mehr so stark unter Schock stehe wie noch vor ein paar Wochen. Und ich schaue mir keine Filme und Dokumentationen über mich mehr an, die mich als Heldin darstellen. Das ist ein gutes Zeichen. Mit meiner Lebensgefährtin Sonja bin ich glücklich wiedervereint.
Beschäftigen Sie sich weiter mit Kunst?
Auch jetzt zeichne ich Bilder – es ist eine Art künstlerische Dokumentation. Es fühlt sich momentan gut an, einfach ausdrucksvoll zu zeichnen, ohne nachzudenken. Ohne Skizze, ohne Entwurf. Zuletzt habe ich meine Zelle in russischer Haft gezeichnet: Es gab dort fast nichts, ein Bett, ein Kissen, ein riesiges Fenster, und wenn man es öffnete, hörte man ein schreckliches Geräusch von einem Generator. Deshalb habe ich das Fenster immer wieder zugemacht, um nicht verrückt zu werden. In einem anderen Bild habe ich mein erstes Gefühl von Freiheit gemalt, das ich hatte, als ich zum Flugzeug ging, um ausgeflogen zu werden.
Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Neben der bildenden Kunst entwickle ich musikalische Ideen. Musik ist für mich immer mit Gefühlen verbunden und damit, in welchem Zustand ich mich gerade befinde. Ich habe eine Menge Material aus dem Gefängnis mitgebracht, Erzählungen und Texte, die ich gerne zu Gehör bringen würde, und sei es nur, weil die Mädchen im Gefängnis mir gesagt haben, dass es absolut notwendig sei, dies zu tun. Ich werde irgendwann eine Performance machen, improvisieren, Gitarre und Flöte spielen, und dabei über das Gefängnis sprechen, Texte vorlesen, erzählen. Und ich suche Leute, mit denen ich gemeinsam Musik machen kann. Aber im Moment fühle ich mich noch nicht stark genug, um das alles anzugehen.
«Ich habe mir immer wieder gesagt: Ich sitze nicht im Gefängnis, sondern ich befreie mich aus dem Gefängnis.»
Was sehen Sie als Ihre neue Aufgabe?
Meine Aufgabe ist es, den Menschen zu danken, die an meiner Befreiung beteiligt waren. Das ist meine Mission, denn sehr viele Menschen haben viel getan, um mir die Freiheit und das Leben zu schenken. Das Mindeste, was ich tun kann, ist einfach Danke zu sagen. Ich bin nicht in Deutschland, weil ich eine politische Figur bin. Nein, ich bin hier, weil meine Freunde, meine Familie, meine Freundin Sonja, Amnesty International und ich selbst daran gearbeitet haben, meine Geschichte in die Medien zu bringen und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das war mein Plan. Ich habe mir immer wieder gesagt: Ich sitze nicht im Gefängnis, sondern ich befreie mich aus dem Gefängnis. Aber das dauert. Es hätte auch einen anderen Weg gegeben: Ich hätte mich schuldig bekennen können und wäre in diesem Fall auf Bewährung entlassen worden.
Was können und was wollen Sie über die Haft erzählen?
Die Frauen im Gefängnis können nur eine einzige Botschaft an die Aussenwelt senden: «Hier ist alles in Ordnung.» Anderenfalls werden sie bestraft. Sie werden nicht geschlagen, zumindest habe ich das nicht gehört oder gesehen, aber sie sind starkem Druck ausgesetzt. Es wird gedroht, sie in eine andere Zelle zu verlegen, in der die Bedingungen schlechter und die Mitinhaftierten aggressiver sind. Wenn du dich am Telefon beschwerst und die Wärterinnen das mitbekommen, dann heisst es schnell, die ganze Zelle bekomme ein Anrufverbot. Alle Frauen in der Zelle hassen dich danach deswegen.
Zeichnung von Aleksandra Skochilenko vom Juni 2022.
© Aleksandra Skochilenko
Gibt es in Haft keine Hoffnung?
Ohne Humor kann man im Gefängnis nicht überleben. Ich will bewusst vermeiden, so über politische Gefangene zu sprechen, wie einige Medien es machen – immer nur zu erklären, dass es den Gefangenen schlecht und schlechter geht, dass es immer schlimmer wird. So ist es nicht. Selbst depressive Gefangene haben ihre Momente der Freude. Meine Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen auch davon erfahren. Es gibt Hoffnung, es kann sich etwas zum Besseren ändern. Neben den berührenden, schönen, menschlichen Momenten müssen die grausamen Ereignisse selbstverständlich benannt werden, denn auch die gibt es zuhauf. Beides, das Schlechte und das Gute, gehört zusammen, und beides muss auch nach aussen vermittelt werden.
Wie sehen hoffnungsvolle Momente im Gefängnis aus?
Wir haben im Gefängnis gespielt. Das Einzige, was du hast, ist ein Hof aus Beton, drei mal fünf Meter gross. Das ist schrecklich. Also haben meine Zellengenossin und ich Spiele erfunden. Wir haben eine Kugel aus einem Deoroller geholt und sie auf der Bank im Hof mit zwei Büchern hin und her geschlagen. Es war eine Mischung aus Badminton und Tischtennis. Das hat Spass gemacht. Es hat auch allen anderen Spass gemacht, die zugeschaut haben. Wenn man eine Katze füttert, spürt man Freude. Wenn man beobachtet, wie andere Frauen Katzen füttern, freut man sich selbst auch.
Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie an Russland denken?
Ich stelle mir einen riesigen, kalten Kosmos vor mit grauen Figuren, von denen irgendwelche Kabel herunterhängen. Polygone und Müllhalden, irgendwelche Dörfer und Paläste, die nebeneinander existieren. Und das geht endlos weiter.