Einst Symbol der Völkerfreundschaft, heute «Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes» – sowjetische Denkmäler werden entfernt oder uminterpretiert.  © Keystone/Mauritius images/Volker Preusser
Einst Symbol der Völkerfreundschaft, heute «Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes» – sowjetische Denkmäler werden entfernt oder uminterpretiert. © Keystone/Mauritius images/Volker Preusser

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Dezember 2024 – Versöhnung Paradoxes Erbe

Von Antonio Prokscha. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2024.
Spätestens seit Beginn der russischen Invasion 2022 wird in der Ukraine der Abbau sowjetischer Denkmäler im öffentlichen Raum verstärkt vorangetrieben. Doch es gibt Stimmen, die die Denkmäler als Teil ukrainischer Geschichte bewahren wollen.

Zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine liegt auf einem Hügel in Kyjiw ein abgetrennter Kopf. Er war Teil einer acht Meter hohen Bronzefigur, die einen ukrainischen und einen russischen Arbeiter darstellte, die gemeinsam einen sowjetischen Freundschaftsorden in die Höhe hielten. Die Statue stand unter dem imposanten «Bogen der Völkerfreundschaft», der 1982 zum 60. Jahrestag der Sowjetunion eingeweiht worden war.

Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko spricht neben dem abgeschlagenen Kopf in die Mikrofone der Journalist*innen: «Man tötet seinen Bruder nicht. Man vergewaltigt nicht seine Schwester. Man zerstört nicht das Land seines Freundes. Deshalb haben wir heute dieses Denkmal abgebaut, das einst als Zeichen der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland errichtet wurde.» Der Titanbogen bleibe bestehen, werde aber in «Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes» umbenannt, so Klitschko. Als ein Kran die Statue aus ihrer Verankerung hebt und auf den Boden absenkt, jubelt die Menschenmenge «Slavyi Ukraini» – Ruhm der Ukraine.

Die Aktion ist Teil einer Entwicklung, die seit einigen Jahren in der Ukraine zu beobachten ist: Sowjetisches Erbe wird abgebaut, um Platz für eine neue, unabhängige Identität zu schaffen. Was einst die sowjetische Einheit verherrlichte, steht heute für den Willen der Ukraine, sich von einer Vergangenheit der russischen Vorherrschaft zu lösen. Die Ukraine kämpft nicht nur um territoriale Souveränität, sondern auch um die Deutungshoheit über ihre Geschichte.

Politisierte Denkmäler

Bereits während der Maidan- Proteste 2013 war die Zerstörung der Lenin-Statue auf dem zentralen Platz von Kyjiw ein Schlüsselmoment. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 verabschiedete das ukrainische Parlament Gesetze der «Entkommunisierung» um Strassennamen ändern und sowjetische Denkmäler entfernen zu können. Die russische Invasion 2022 verlieh diesem Vorhaben eine neue Dringlichkeit.

«Die sowjetische Vergangenheit war für Menschen in der Ukraine schon immer ein emotionales und sensibles Thema», sagt die ukrainische Kuratorin und Historikerin Yevheniia Moliar. «Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die propagandistische Bedeutung von sowjetischen Bauten zu verblassen. Als ich aufwuchs, war der Freiheitsbogen nur ein weiteres Denkmal und einer unserer Lieblingsorte, an denen wir uns mit Freund*innen trafen oder spazieren gingen.»

Doch der Krieg habe diese Denkmäler wieder politisiert. «Die russische Propaganda gab ihnen ihr politisches Potenzial zurück», sagt Moliar.

So restauriert umgekehrt die russische Regierung in den besetzten ukrainischen Gebieten Statuen und Symbole aus der Sowjetzeit. Russische Soldat*innen zerstören zudem Gedenkstätten, die an die sowjetischen Verbrechen erinnern, beispielsweise das Holodomor-Denkmal in Mariupol, das an die Millionen Ukrainer*innen erinnert, die in der von Stalin inszenierten Hungersnot ums Leben kamen.

Teil der Identität

Die Historikerin Yevheniia Moliar arbeitete im Auftrag des ukrainischen Kulturministeriums für eine Kommission, die sowjetische Denkmäler katalogisierte und Empfehlungen zum Umgang mit ihnen abgab. Die Kommission plädierte für den Erhalt der Denkmäler als kulturelles Erbe der Ukraine. Solche Vorschläge stiessen jedoch auf grossen Widerstand, erklärt Moliar: «Leider wurden einige unserer Empfehlungen ignoriert. Die einzigen Stimmen, die gehört werden, sind die, die Abriss und Zerstörung fordern.»

«Die Auslöschung dieser Symbole könnte bedeuten, dass ein Teil unserer kulturellen Identität verloren geht.» Yevheniia Moliar

In der Ukraine wird das sowjetische Erbe oft als russisches Erbe betrachtet. Doch sowjetisch sei nicht gleichbedeutend mit russisch, argumentiert Moliar: «Die russische Propaganda behauptet, sie stünden für eine russische Geschichte der Ukraine. Viele dieser Denkmäler wurden jedoch von ukrainischen Künstler*innen geschaffen.»

Wer dieses Kulturerbe auf russische Kultur reduzierte, tappe in die Falle der Propaganda, erklärt sie weiter: «Die Auslöschung dieser Symbole könnte bedeuten, dass ein Teil unserer kulturellen Identität verloren geht.»

Die Herausforderung bestehe darin, dieses Erbe als ukrainisch anzuerkennen und gleichzeitig die Propaganda und die Manipulation zu erkennen, die damit einhergingen, sagt Moliar. «Das Problem ist, dass nach dem russischen Angriff auf die Ukraine viele diese Unterscheidung nicht mehr machen wollen. Es ist schwer, über den Erhalt dieser Denkmäler zu sprechen, wenn sie mit dem Aggressor in Verbindung gebracht werden.» In Kriegszeiten erhielt die Entfernung sowjetischer Denkmäler zusätzliche Bedeutung. Während sich die Ukraine gegen die russische Aggression wehrt, wird die Zerstörung dieser Symbole zu einem Akt des Widerstands gegen die imperialistischen Ambitionen des Kremls. «Der Abriss sowjetischer Statuen ist nicht nur die Beseitigung eines Stücks Geschichte. Es ist ein symbolischer Sieg. Sie zu zerstören, hat fast einen magischen Charakter – man kann damit seinen Feind zu Fall bringen», sagt Moliar.

Die Sowjetzeit ist ein integraler Bestandteil der Geschichte des Landes und der modernen ukrainischen Identität. Ihre Spuren finden sich nicht nur in Denkmälern und der Architektur, sondern auch in der Stadtplanung, in Landschaften oder sogar in persönlichen Dingen wie Haushaltsgegenständen und Fotoalben von Familien. Trotz der Bemühungen, die Ukraine von ihrer sowjetischen Vergangenheit zu lösen, prägen diese Überbleibsel weiterhin das Land.

Differenzierte Auseinandersetzung

Angesichts dessen haben einige zeitgenössische ukrainische Künstler*innen über die letzten Jahre begonnen, sowjetische Denkmäler neu zu interpretieren. So plakatierte der Künstler Volodimir Kuznetsov schon 2018 einen Riss auf den Bogen in Kyjiw und taufte ihn «Riss der Freundschaft».

Auch Museen könnten eine Rolle spielen, wenn es darum geht, die Mechanismen der Propaganda aufzuarbeiten und eine differenzierte Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit zu ermöglichen. «Vor ein paar Jahren ging es darum, Wege für den kulturellen Erhalt sowjetischer Denkmäler zu finden. Aber durch den Krieg hat sich alles verändert », sagt Moliar. Die Einrichtung eines Museums zum sowjetischen Erbe wäre eine Alternative für die öffentliche Diskussion. Bisher gibt es so etwas nur vereinzelt.

«Es ist entscheidend, dass die Ukrainer*innen die Mechanismen der Propaganda verstehen, die ihre Geschichtswahrnehmung beeinflusst haben.» Yevheniia Moliar

«Es ist entscheidend, dass die Ukrainer*innen die Mechanismen der Propaganda verstehen, die ihre Geschichtswahrnehmung beeinflusst haben», sagt sie. «Nur wenn wir lernen, die Vergangenheit als komplexes Gewebe zu sehen, statt sie in einem binären Narrativ festzuschreiben, werden sowjetische Denkmäler nicht länger als Bedrohung wahrgenommen und können stattdessen als Gelegenheit zur Reflexion und Reklamation dienen.»

Die Diskussion über den Freiheitsbogen geht währenddessen weiter. Der vollständige Abbau des Bauwerks wurde in den letzten Jahren erwogen, der Plan dazu wurde jedoch Ende April aufgegeben. Nach Ansicht des Kulturministeriums der Kyjiwer Stadtverwaltung wurde die Bedeutung des Bogens «neu überdacht», und der Platz soll umgestaltet werden.