Tagsüber lebt sie ihren Traum: Sie spielt Fussball. In der Nacht jedoch wird sie von Albträumen heimgesucht: ein Messer, das einen Ball aufschlitzt. Hassverzerrte Gesichter. Blut, das im staubigen Boden versickert. Ein Mädchen, dessen Körper sich in Flammen windet. In Afghanistan, der Heimat von Khalida Popal, ist Fussball nicht bloss Unterhaltung, sondern ein Spiel auf Leben und Tod.
Was für Frauen und Mädchen in anderen Weltgegenden selbstverständlich ist, kommt in Afghanistan einem täglichen Kampf gleich, der nicht selten in Verzweiflung, Resignation oder gar mit dem Tod endet. Seit die Taliban 2021 die Macht im Land an sich gerissen haben, erliessen sie über hundert Gesetze, welche die Rechte von Frauen massiv einschränken. War die Vorstellung, eine Frau Fussball spielen zu sehen, in Afghanistan früher ungewöhnlich, liegt dies heute im Bereich des Unmöglichen.
Mit einer Dringlichkeit, die ihresgleichen sucht, beschreibt Khalida Popal das Wechselbad zwischen Ohnmacht und Wut, das sie empfindet, wenn sie mit ihren Ansinnen an eine Mauer aus patriarchaler Unterdrückung und Diskriminierung prallt. Zuweilen geht sie ihre Ziele mit einer kindlich anmutenden Naivität an, die wahrscheinlich nötig ist, um nicht von Beginn weg die Segel zu streichen vor der Unwahrscheinlichkeit, sie zu erreichen. Dann wieder übt sie sich in Selbstkritik ob der Gefahren, denen sie ihr Team und ihre Familie «mit ihrem Engagement» aussetzt. Es ist ein Gewinn für die Geschichte, für den Fussball und für die Frauenrechte, dass sie sich zuletzt doch immer dem Bonmot ihrer Familie entsinnt, dass es sich lohnt «für das zu kämpfen, woran sie glaubt».
Khalida Popals rebellischer Geist und ihr sportliches Talent stellen sich als Segen und Fluch zugleich heraus. Sie erreicht damit Grosses: sie gründet ein Frauenteam und arbeitet als erste Frau beim nationalen Fussballverband. Für ihren Traum, Fussball zu spielen, bringen sie und ihre Mitspielerinnen jedoch grosse Opfer. Sie sind Drohungen, sexualisierter Gewalt und Angriffen auf ihre physische und psychische Integrität ausgesetzt. Aus der Distanz erscheinen manche Opfer zu gross: Eine Mitspielerin nimmt sich das Leben, eine andere muss ins Gefängnis. Khalida selbst entgeht nur knapp einem Haftbefehl und ist gezwungen, ihre Heimat – ein zweites Mal nach ihrer Flucht als Kind – Hals über Kopf zu verlassen.
Doch es geht um weit mehr als um die Liebe zum Spiel. Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung. «Meine wundervollen Schwestern» ist nicht nur die Geschichte eines fussballbegeisterten Mädchens, sondern zeichnet das Bild eines geschundenen, von patriarchalen Strukturen geprägten Landes und seiner Menschen aus der Perspektive einer heranwachsenden Frau. Das Buch offenbart die Hürden und Demütigungen, denen Menschen auf der Flucht im europäischen Asylsystem ausgesetzt sind. Und es wirft ein Schlaglicht auf die diskriminierenden Strukturen und die Doppelzüngigkeit des Weltfussballverbandes Fifa, der von seinem Hauptsitz in Zürich aus sein Bekenntnis für die Menschenrechte in die Welt hinausposaunt, diese Werte jedoch nicht vertritt, wenn es darauf ankommt.
Trotz der Ohnmacht: Khalida Popals Buch macht auch Hoffnung. Denn, so viel sei verraten, die Geschichte endet nicht mit ihrer Flucht nach Europa. Sie geht weiter – über die letzte Seite hinaus.