Noch vor kurzem war hier Sperrgebiet mit auf Damaskus gerichteten Kanonen – nun feiern die Syrer*innen auf dem Berg Qasiyun die neue Freiheit. © Chris McGrath/Getty Images
Noch vor kurzem war hier Sperrgebiet mit auf Damaskus gerichteten Kanonen – nun feiern die Syrer*innen auf dem Berg Qasiyun die neue Freiheit. © Chris McGrath/Getty Images

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2025 – Syrien Gemischte Gefühle

Von Rémi Carlier. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2025.
Das Ende des 13-jährigen Bürgerkriegs und die Flucht von Präsident Baschar al-Assad haben in Syrien und in der Diaspora Hoffnung geweckt. Doch die neuen Herrscher werfen Fragen auf.

Der 1000 Meter hohe Qasiyun ist ein steiniger Berg, der seine Kargheit durch eine unvergleichliche Aussicht auf Damaskus wettmacht. In diesem kühlen Januar drängen sich hier die Menschenmassen, um die Aussicht zu geniessen, Wasserpfeife zu rauchen und dampfenden Tee zu trinken. Die Szenerie wäre alltäglich, wären da nicht die herausgerissenen Schilder mit der Aufschrift «Militärgebiet », die die Zufahrtsstrasse zum Berg säumen. Noch vor wenigen Wochen waren hier Kanonen der Regierung auf die syrische Hauptstadt gerichtet. Die Szenerie auf dem Qasiyun steht sinnbildlich für die Welle von Freiheitsgefühlen, die das syrische Volk seit dem 8. Dezember 2024 durchlebt, nachdem der Langzeitdiktator Baschar al-Assad aus dem Land geflüchtet und Damaskus ohne grossen Widerstand gefallen ist.

«Gestern haben wir wieder das Ende des Regimes gefeiert. Unsere Stimmen reichten bis zum Himmel! Tausende Menschen weinten vor Freude. Wir können es noch immer nicht glauben: Wir sind frei. Niemand wird uns etwas tun, wir werden nicht mehr zum Ziel von Flugzeugangriffen oder Heckenschützen. Es ist vorbei», sagt Ismail Alabdullah mit zitternder Stimme. Er ist seit 2013 Freiwilliger bei den Weisshelmen, dem syrischen Zivilschutz, und hat den ganzen Horror des Bürgerkriegs in Syrien hautnah miterlebt.

Der unerwartete Sturz Baschar al-Assads, der seit 1971 über Syrien geherrscht hatte, verblüffte die Welt. Nach mehr als 13 Jahren grausamen Bürgerkriegs, in dem mindestens 500'000 Menschen in Kämpfen und aufgrund der Unterdrückung durch die Behörden ums Leben kamen, fand der Krieg ganz plötzlich ein Ende. Am meisten überrascht waren die Syrer*innen selbst. «Ich hatte die Hoffnung 2016 verloren, als Aleppo fiel. Um ehrlich zu sein, bereitete ich mich darauf vor, Idlib zu verlassen, um meine Familie vor den Vergeltungsmassnahmen des Regimes zu schützen, die über uns hereinzubrechen drohten», sagt Ismail. Idlib war die letzte Festung der Rebellen im Nordwesten des Landes, von wo aus die islamistische Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die nun in Damaskus an der Macht ist, ihre letzte Offensive startete.

Endlich wieder Hoffnung

Nach der Flucht Baschar al-Assads brach erst einmal Freude aus. Doch der lange Krieg hat das Land schwer getroffen: 90 Prozent der Bevölkerung leben zurzeit unterhalb der Armutsgrenze, 8 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene und 6 Millionen sind seit 2011 aus dem Land geflohen. Was ist übriggeblieben von den Träumen eines Volkes, das sich während des Arabischen Frühlings 2011 massenhaft friedlich mobilisiert hatte?

«Ich war damals erst 16 Jahre alt. Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten weckten in mir die Hoffnung auf mehr Freiheit und dass die Menschen sich selbst regieren können», erzählt die heute 30-jährige Israa Awad aus der Küstenstadt Latakia. «Ich war mir der Unterdrückung durch das Regime sehr wohl bewusst. Wir alle sind mit der Angst aufgewachsen. Wir haben gelernt, nie ein Wort zu viel zu sagen. Wir lebten mit dem Wissen, dass die Wände Ohren haben. Aber wir hätten uns niemals diese Brutalität vorstellen können. Am 30. August 2011 hatte mein Vater mich zu einem friedlichen Sitzstreik mitgenommen. Am nächsten Tag wurde dieser Protest von der Armee blutig aufgelöst.»

Israas Familie musste Latakia im April 2012 fluchtartig verlassen, als sie erfuhr, dass ihr Vater wegen seiner Beteiligung an regimefeindlichen Aktivitäten kurz vor der Verhaftung stand. Innerhalb weniger Tage erreichte die Familie Istanbul, wo sie sich ein neues Leben aufbaute. Israa, die heute verheiratet ist und eine kleine Tochter hat, will ihren Master in Bauingenieurwesen abschliessen und plant, bald ihre Heimatstadt zu besuchen. «Und vielleicht in Zukunft endgültig dorthin zurückzukehren, je nachdem, was passiert», sagt sie.

Bisher sind erst rund 150'000 Geflüchtete aus den Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt (Stand Mitte Januar 2025, Anm. der Redaktion). Die islamistische Gruppe HTS zeigt Zeichen von Offenheit, verspricht Vergebung, Versöhnung und Frieden und versichert, dass sie die Multikulturalität, die Syrien kennzeichnet, respektieren wolle. Ihr charismatischer Anführer, Ahmed al-Scharaa, betreibt eine aktive diplomatische Kampagne, um das Land und die Wirtschaft, die noch immer internationalen Sanktionen unterliegt, wieder aufzubauen und das Image aufzupolieren: 2018 hatte die US-Regierung die Gruppe HTS auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt.

Die Skepsis bleibt

Die einen lassen sich vom gemässigten Auftreten der HTS beruhigen, andere bleiben skeptisch. In einem Punkt sind sich die Syrer*innen jedoch einig: Nichts kann schlimmer sein als das Assad-Regime. «Natürlich bin ich skeptisch, was die neue Führung angeht, wir können uns über nichts sicher sein. Aber sie haben über die Jahre gezeigt, dass sie eine Veränderung bringen wollen», sagt Israa. Sie hat Vertrauen in die künftige Stellung der Frauen: «Ich glaube, dass die Frauen in der Gesellschaft wieder ihren Platz einnehmen. Unter der HTS sind die Frauen in Idlib aufgeblüht, haben ihre eigenen Gruppen gegründet und eine wichtige Rolle im lokalen Leben gespielt. » Es gibt auch andere ermutigende Zeichen für die Frauenrechte, wie die Ernennung von Maysaa Sabrine zur Leiterin der syrischen Zentralbank Ende Dezember und von Muhsina al-Mahithaui zur ersten Gouverneurin der Provinz Suwaida im Süden des Landes.

Die sozialen Netze, die im Exil sehr stark wurden, ermöglichen nun auch in den Städten Damaskus und Aleppo eine noch nie dagewesene Pluralität des Dialogs. «Der grosse Unterschied zu 2011 besteht darin, dass sich die Zivilgesellschaft sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Landes gut organisiert hat», analysiert Leo Fourn vom Centre Population et Développement (CEPED) in Paris, der mit dem Werdegang syrischer Exil- Aktivist*innen bestens vertraut ist. «Dies ist paradoxerweise eine positive Auswirkung des Exils: Aktivist*innen konnten sich leichter entfalten. Für die neue Regierung wird es schwierig sein, diese neue politische Form der Organisation auszulöschen.»

Skeptisch bleibt etwa der 28-jährige Fares, der 2011 als Schüler die Unruhen und deren Unterdrückung erlebte und danach nach Idlib flüchtete, wo er sieben Jahre lang als Amateurfilmer die Entwicklung der HTS miterlebte, bevor er 2019 nach Nordeuropa flüchtete. «Ich habe das Gefühl, dass sie sich verändern. In Damaskus feiern meine Freunde in den Stadien und auf den Strassen. Die Leute reden über alles, was unter dem Assad- Regime, aber auch unter der Herrschaft der HTS in Idlib nicht erlaubt war», sagt er. «Trotzdem will ich nicht, dass Ahmed al-Scharaa an der Macht bleibt. Ich kann nur hoffen, dass er tut, was er verspricht. Aber wir kennen ihn, wir wissen, wie er sich in Idlib verhalten hat. Ich träume von einer Regierung für alle Syrer*innen. Die HTS wird aber sicherlich niemanden von ausserhalb ihres Umfelds akzeptieren, sondern nur Personen, die Ahmed al-Schaara gegenüber loyal sind.»

Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen verdeutlicht die Komplexität der Gefühle der Syrer*innen. Viele hadern noch mit der Vergangenheit. So wurde Fares’ Onkel von Sicherheitskräften inhaftiert und verschleppt. Seine Spur verliert sich in Saydnaya, der Gefängnishölle in der Nähe von Damaskus, die Tausende das Leben kostete und deren Schrecken Amnesty International 2017 in einem Bericht enthüllte. «Wir haben so viele Freunde verloren. Wir hätten nie gedacht, dass der Preis für die Freiheit so hoch sein würde», sagt Fares. «Die Zukunft Syriens wird schwierig sein. Aber niemand wird im Gefängnis sitzen, es wird kein zweites Saydnaya mehr geben, und das reicht mir.»