Jürg Lauber. © EDA-DFAE
Jürg Lauber. © EDA-DFAE

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2025 – USA «Das multilaterale System ist widerstandsfähig»

Von Baptiste Fellay. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2025.
Innerhalb von fünf Monaten hat die neue US-Regierung zahlreiche Massnahmen ergriffen, die die internationale Menschenrechtsordnung schwächen. Eine Gefahr für den Multilateralismus und die Institutionen, die ihn tragen? Jürg Lauber, Botschafter und derzeitiger Vorsitzender des Uno-Menschenrechtsrats (UNHCR), im Gespräch mit Baptiste Fellay.
Herr Lauber, wie ist die Stimmung im UNHCR, nachdem die USA aus dem Rat ausgetreten sind?

Die geopolitischen Spannungen und neue Machtverhältnisse stellen das multilaterale System infrage. Die allgemeine Stimmung im Palais des Nations in Genf ist von grosser Unsicherheit geprägt.

Eine der Aufgaben des Vorsitzenden des Uno-Menschenrechtsrates ist es, den Dialog zwischen den Staaten, insbesondere den Grossmächten, zu fördern. Haben Sie überhaupt noch die Möglichkeit dazu?

Ich habe mir gleich zu Beginn meiner Amtszeit im Januar die Wiederbelebung der Diplomatie als Priorität gesetzt. Dabei denke ich vor allem an die informelle Diplomatie, die ausserhalb der offiziellen Sitzungen stattfindet. Die eigentlichen Verhandlungen finden oft bei einer Tasse Kaffee statt. Während der Covid-Pandemie sind diese Räume des Dialogs praktisch verschwunden. Hinzu kommt, dass die Gefahr von Indiskretionen in den sozialen Netzwerken die Möglichkeiten für vertrauliche Gespräche verringert hat. Aber heute ist es wichtiger denn je, diese Gepflogenheiten wieder aufzunehmen, sich Zeit für den Austausch zu nehmen, die Positionen der anderen anzuhören und zu erklären, warum man einen bestimmten Standpunkt vertritt.

Kann die Uno mit dem Austritt der USA aus dem Menschenrechtsrat noch Fortschritte im Bereich der Menschenrechte erzielen?

Die Staaten treffen sich weiterhin und diskutieren. Ich bin beeindruckt von der Vielzahl der Themen, mit denen sich der Menschenrechtsrat befasst. Eine Mehrheit der Länder hat weiterhin Vertrauen in die Institutionen, die universelle Werte vertreten.

Dennoch war der Multilateralismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs selten so erschüttert wie heute.

Da bin ich mir nicht so sicher. Wir stehen sicherlich am Ende eines drei Jahrzehnte währenden Zeitraums mit sehr günstiger Konjunktur. Aber vergessen wir nicht, dass der Multilateralismus den Kalten Krieg überlebt hat. Das multilaterale System hat sich immer anzupassen gewusst, es ist sehr widerstandsfähig.

Sie befürchten also nicht, dass andere dem Beispiel der Trump-Regierung folgen und wir uns auf eine Welt zubewegen, in der das Recht des Stärkeren gilt?

Jedes Land verteidigt in erster Linie seine eigenen Interessen, das ist nichts Neues. Heute beobachten wir eine Tendenz, nationale Interessen enger zu definieren. Einige Staaten vergessen, dass ihr Wohlstand von der Stabilität ihrer Region und der Welt abhängt. Aber selbst ein mächtiges Land, das versucht sein könnte, einen unilateraleren Kurs einzuschlagen, braucht Verbündete und Unterstützung.

Der Rückzug der USA hinterlässt ein Lücke, die andere zu füllen versuchen, insbesondere China, das eine Politik der Unterwanderung von Organisationen betreibt. Ist mit einer Neudefinition von Werten wie den Menschenrechten zu rechnen?

Seit 25 Jahren ist der wachsende Einfluss Chinas, der Golfstaaten und anderer Länder in den Vereinten Nationen zu spüren. Die multilaterale Ordnung ist ein Spiegelbild der geopolitischen Realität. Wenn sich also eine Macht wie die Vereinigten Staaten zurückzieht, werden andere dies nutzen, um ihre Vision einzubringen. Aber vergessen wir nicht, dass Organisationen durch Statuten geregelt sind. Im Zentrum der multilateralen Architektur stehen die Menschenrechte. Sie sind ein Kompass. Spannungen gibt es eher bei ihrer Umsetzung: Jedes Land hat sein eigenes Tempo und seinen eigenen Ansatz. Aber Menschenrechte haben ihre Wurzeln in den Zivilisationen auf der ganzen Welt. Letztendlich sind die Bedürfnisse überall dieselben: ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsversorgung, Mitbestimmung in der Gemeinschaft usw.

Tut die Schweiz genug, die Texte, deren Hüterin sie ist, zu verteidigen?

Ja. Auf diplomatischer Ebene ist unsere Position klar: Wir wollen Frieden, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Als Gaststaat bauen wir zudem die Instrumente für den Multilateralismus weiter aus, wir investieren in die Infrastruktur und die Dienstleistungen für die Vertreter*innen in Genf. Derzeit koordinieren wir uns mit anderen Mitgliedstaaten, um die multilaterale Arbeit weiter zu stärken. Ich stehe auch in Kontakt mit den bei uns ansässigen internationalen Organisationen, um zu verstehen, wie wir sie unterstützen können.

Aber wird die Schweiz noch gehört? In letzter Zeit hat sie sich nicht sehr aktiv für die Genfer Konventionen eingesetzt, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt. In Europa haben eher Irland und Spanien diese Rolle übernommen.

Wir bleiben in diesen Fragen standhaft. Wir haben die russische Invasion in der Ukraine verurteilt. Wir sind uns über die Bedeutung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Klaren und setzen uns weiterhin für eine Zweistaatenlösung ein. Die Schweiz hat sich auch stark für die 34. Internationale Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) im letzten Jahr engagiert. Diese Konferenz hat die Bedeutung des humanitären Völkerrechts weltweit bekräftigt.

Spanien hat den Staat Palästina offiziell anerkannt. In der Schweiz hat man den Eindruck, dass es unserer Aussenpolitik an Weitsicht mangelt.

Die Schweiz nimmt ihre Rolle als Gaststaat der Uno und als Heimat des IKRK mit grosser Verantwortung wahr. Um unsere Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren, müssen wir einen langfristigen, kohärenten Ansatz verfolgen. Wenn es unsere Aufgabe ist, den Dialog zu fördern, um Lösungen zu finden, müssen wir sehr vorsichtig sein. Wenn es Sie beruhigt: Während unserer zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat wurden wir eindeutig als Stimme des Völkerrechts wahrgenommen.

Sie haben vorhin die Golfstaaten erwähnt. Saudi-Arabien träumt davon, ein neuer diplomatischer Knotenpunkt zu werden, und war Gastgeber der letzten Treffen zwischen den USA und Russland, und nicht die Schweiz ...

Tatsächlich haben auch andere Länder diplomatische Kapazitäten aufgebaut. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Genf oder die Schweiz an Attraktivität verlieren. Viele Treffen, über die in den Medien nicht unbedingt berichtet wird, finden in Genf statt. Die Schweiz hat aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Infrastruktur und ihres diplomatischen Know-hows nach wie vor eine Rolle zu spielen. Und wir werden auch den USA weiterhin die Vorteile des Multilateralismus auch für eine Grossmacht aufzeigen. Glücklicherweise stehen wir nicht allein da. Es gibt immer noch sehr viele Länder, die bereit sind, den Multilateralismus und seine Werte zu verteidigen.