Die Piste: Die italienische Regierung lässt die Menschen in der informellen Siedlung auf dem ehemaligen Militärflughafen von Borgo Mezzanone allein. © Nicoló Lanfranchi
Die Piste: Die italienische Regierung lässt die Menschen in der informellen Siedlung auf dem ehemaligen Militärflughafen von Borgo Mezzanone allein. © Nicoló Lanfranchi

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2025 – Italien Überleben auf der Piste

Von Nina Apin (Text) und Nicoló Lanfranchi (Fotos). Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2025.
Borgo Mezzanone in der italienischen Region Apulien ist eines der grössten Elendsquartiere Europas. Tausende Migrant*innen leben dort unter widrigsten Umständen. Am schlimmsten ist die Situation der Frauen, welche zumeist Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung sind. Sie können sich nur schwer aus dem Kreislauf von Prostitution, Rechtlosigkeit und wirtschaftlicher Not befreien.

«Sie braucht einen Arzttermin. Und eine Anwältin, die sie zur Polizei begleitet.» Daniela steigt mit einer Patientin aus dem Arztmobil und schildert einer Kollegin knapp die Lage. Daniela, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, arbeitet für Intersos, eine italienische Hilfsorganisation. Intersos leistet humanitäre Arbeit in Kriegs- und Konfliktregionen – aber auch im italienischen Borgo Mezzanone, an dessen Rand eines der grössten Elendsquartiere Europas liegt.

Danielas Arbeitsplatz ist ein schnurgerader Asphaltstreifen, umgeben von Müllbergen und Wellblechhütten. «La Pista», die Piste, nennen die Einheimischen die informelle Siedlung auf dem Gelände eines stillgelegten Militärflughafens. Im Sommer, wenn auf den Feldern ringsum die Tomaten reif sind, leben dort bis zu 3000 Menschen, im Winterhalbjahr um die 1000. Sie kommen aus Somalia, Nigeria, Ghana, Bangladesch, Pakistan oder Syrien.

Manche sind Geflüchtete mit abgelaufenem Aufenthaltstitel, andere kamen ursprünglich als Arbeitskräfte nach Italien. Sie alle arbeiten unter prekären Bedingungen als Tagelöhner*innen und schlafen in der Zeltstadt, die sich zu beiden Seiten der Landebahn ausbreitet. Gemauerte Häuser ohne Fensterscheiben, ausrangierte Wohnwagen, Container oder aus Wellblech und Holzlatten zusammengenagelte Konstruktionen – fast alles dient als Behausung. Fliessendes Wasser gibt es ebenso wenig wie eine Kanalisation, der Strom wird aus verschlungenen Leitungsknäueln gezapft. Es riecht nach Holzfeuer, verbranntem Plastik und Fäkalien.

«Es geht um Ausbeutungen – im Plural: Menschenhandel, Arbeitsausbeutung, sexuelle Ausbeutung, Freiheitsberaubung, körperliche und psychische Gewalt.» Daniela Zitarosa, Juristin bei Intersos

Die meisten, die das kostenlose Behandlungs- und Beratungsangebot von Intersos in Anspruch nähmen, seien Männer mit Arbeitsverletzungen oder chronischen Erkrankungen, erzählt die junge Juristin Daniela Zitarosa, die denselben Vornamen wie ihre Kollegin von Intersos trägt. «Schlimm ist die Situation für alle», betont Zitarosa. Grund dafür sei das mafiöse Ausbeutungssystem des Caporalato, bei dem ein «Caporale» Arbeitskräfte zu Hungerlöhnen teils zwölf Stunden lang auf den Feldern schuften lässt und ihnen für Arbeitsausrüstung, Transport und Unterkunft noch zusätzlich Geld abnimmt. Insbesondere Migrant*innen ohne gültige Papiere seien erpressbar und könnten ausgebeutet werden. Die italienische Landwirtschaftsgewerkschaft FLAI CGIL schätzt, dass in ganz Italien 430'000 Menschen unter dem Caporalato arbeiten und rund 100'000 von ihnen in illegalen Siedlungen leben.

Mehrfache Ausbeutung

Frauen, die nur rund zehn Prozent der Bewohner*innen des Camps Borgo Mezzanone ausmachen, seien die verletzlichste Gruppe, berichtet Daniela Zitarosa: «Es geht um Ausbeutungen – im Plural: Menschenhandel, Arbeitsausbeutung, sexuelle Ausbeutung, Freiheitsberaubung, körperliche und psychische Gewalt.» Sie berichtet von Frauen, die seit Jahren immer wieder kämen, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, stets in männlicher Begleitung. Von Frauen, die weder Handy noch Papiere hätten und in einer Wohnung eingesperrt seien, in der sie täglich 15 bis 20 Kunden bedienen müssten. «Diese Frauen stehen unter totaler Kontrolle.» Für die Sozialarbeiterinnen von Intersos ist es schwer, Kontakt zu den Frauen aufzunehmen. Insbesondere an die Schwarzen Migrantinnen aus Nigeria oder der Elfenbeinküste kommen sie nur schwer heran, weil diese in Privatwohnungen oder informellen Bordellen versteckt sind. Auf dem Strich entlang der Landstrassen arbeiten ausschliesslich Rumäninnen und Bulgarinnen.

Auf der Piste von Borgo Mezzanone sind tagsüber fast nur Männer zu sehen. Hinter einem Holzkohlegrill, auf dem Fleischteile brutzeln, betreibt Abdul sein Lokal. Der schmale Togoer lebt schon seit 2007 auf der Piste. Seine Schlafkammer teilt er sich mit zwei anderen Männern: eine Matratze hinter einem Vorhang, ein zerbeulter Metallspind, ein Elektroofen. Und die Notdurft? Abdul holt einen Schlüssel und entriegelt ein gemauertes Toilettenhaus mit abschliessbaren Kabinen und Hockrinnen. Es riecht bestialisch, ist aber einigermassen sauber – eine von vielen Anstrengungen der Bewohner*innen, unter den widrigen Bedingungen ihre Würde zu bewahren. Ja, es lebten auch Frauen auf der Piste, sagt Abdul, zum Glück nicht viele. «Eher da unten», er zeigt mit der Hand vage die Strasse hinunter, «aber ich empfehle nicht, in diesen Teil zu gehen.»

Erinnerungen an die Heimat gehen durch den Magen.

Ignorierte Missstände

Auch Khady Sene geht nicht gern «nach dort». Die Senegalesin läuft mit einem unerschütterlichen Lächeln die Hütten ab und verteilt Flugblätter, die zu einem Gedenkgottesdienst für im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtete in der Dorfkirche von Borgo Mezzanone einladen. Mit gerade einmal 31 Jahren wurde Khady Sene, die seit 2012 in Italien lebt, zur Diözesandirektorin der örtlichen Caritas ernannt. Die studierte Finanzmarketingfachfrau fing als Ehrenamtliche in der Migrationsberatung an und hat seither ihr Berufsleben der Unterstützung derer gewidmet, für die sich abseits humanitärer Hilfsorganisationen kaum jemand interessiert. «Es hat mir wehgetan, zu sehen, wie Migrant* innen hier behandelt werden», sagt sie.

Fast überall wird sie freundlich empfangen – nur nicht in der Gegend, von der es heisst, dass dort die nigerianische Mafia das Sagen habe und mit Drogen-, Waffen- und Frauenhandel sehr viel Geld verdiene. Bei Abdul erhalten Khady Sene und der italienische Priester, der sie begleitet, eine kalte Cola, vom Grill nebenan lässt sie sich noch schnell eine fetttriefende Tüte «to go» einpacken. «Für mich ist dieses Essen Heimat», gesteht Khady Sene. «Nichts gegen die italienische Küche, aber manchmal wärme afrikanische Küche einfach die Seele.»

Nicht den Mut verlieren: Khady Sene, Direktorin der örtlichen Caritas.

Ein paar Hütten weiter sitzen drei Frauen in einem Innenhof, eine von ihnen stellt sich als Florence vor. Sie komme aus Nigeria, sei 46 Jahre alt und mit einem Boot in Turin angekommen, sagt sie. Seit sieben Jahren lebt sie im Camp, aber unter welchen Umständen sie hier gelandet ist, will sie nicht erzählen. Auch ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, wie alle Bewohner*innen der Piste – zu gross ist die Sorge, dass Verwandte zu Hause ihre Geschichte im Internet lesen. Florence ist wütend auf die Reporter*innen und die Italiener*innen, die durchs Camp spazieren, fotografieren, Fragen stellen. Dabei könne doch jede*r sehen, wie es auf der Piste zugehe.

Systematischer Menschenhandel

Florence könnte ein Opfer von Menschenhandel sein, vermuten die beiden Sozialarbeiterinnen Marianna Carusillo und Concetta Notarangelo. Sie arbeiten für die Organisation Medtraining, die Frauen dabei hilft, aus der Prostitution auszusteigen. Nicht wenige kehrten nach einem vorübergehenden Ausstieg aus dem System wieder zurück, berichtet Marianna Carusillo: «Sie haben Kinder bekommen, können aber nach wie vor kaum Italienisch. Dann fangen sie wieder von vorne an: Sprachkurs, Berufsausbildung, Wohnung, Arbeitssuche …» Es sind mühsame, oft jahrelange Prozesse voller Rückschläge. Jüngeren Frauen Hilfsangebote zu machen, gelingt den Sozialarbeiterinnen nur selten, etwa bei ärztlichen Untersuchungen. «In letzter Zeit kommen viele sehr junge Marokkanerinnen über die Balkanroute in Apulien an, offiziell als Haushaltshilfen. Sie arbeiten in den Hinterzimmern von Bars oder werden im Internet vermittelt», sagt Concetta Notarangelo.

Eine der Frauen, die mithilfe von Medtraining den Absprung geschafft haben, arbeitet heute als Verkäuferin auf der Piste. Mercy, 31, ist gross und drahtig, sie versprüht eine robuste Fröhlichkeit, stammt aus Benin City und kam vor sieben Jahren nach Italien. «Absolut alles und noch mehr» habe sie gemacht, um Geld zu verdienen, sagt sie. «Jetzt bin ich müde.» In ihrem kleinen Laden verkauft sie vormittags Kaffee, Kochbananen und andere Lebensmittel. Am Nachmittag besucht sie einen Italienischkurs in Foggia, wo sie mit ihren beiden Kindern lebt. Ein weiteres älteres Kind sei bei der Mutter in Nigeria – hier wendet sich Mercy ab, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das Leben in Italien bleibe hart: Die Italiener*innen hätten viele Vorurteile gegenüber Schwarzen, ihre Kinder bekämen das ebenfalls zu spüren. Auf der Piste habe sie keine Freund*innen: «Hier kämpft jeder nur für sich.»

Unter Kontrolle: Eine junge nigerianische Sexworkerin wartet auf Kunden.

Schleuderpreise

Nach Sonnenuntergang verändert sich die Piste: Die Bars öffnen, Musik schallt aus vielen Lautsprechern. Jetzt sieht man auch die Frauen: Sie sitzen auf Plastikstühlen vor den Bars oder stehen an den Ecken, grell geschminkt, in hautenger Kleidung. In mancher Bar kann man Betten hinter einem Vorhang erahnen. Am Ausgang der Piste steht ein grosser Flachbau, neben dem die Erde sauber geharkt ist: Parkplätze für die Kunden des «Majestic», des grössten Bordells. An den Wochenenden, erzählt ein Polizist, der in der Nähe mit seinem Streifenwagen patrouilliert, kämen Gruppen junger Bewohner des Dorfes auf die Piste: Drogen, Alkohol, Sex – alles sei zu Schleuderpreisen verfügbar.

Für die italienische Politik ist das Camp von Borgo Mezzanone kein Thema oder aber ein Schandfleck, den man gerne beseitigen würde.

Für die italienische Politik ist das Camp von Borgo Mezzanone kein Thema oder aber ein Schandfleck, den man gerne beseitigen würde. Der rechtsextreme Lega- Politiker Matteo Salvini erschien in seiner Zeit als Innenminister mit einem Bagger und wollte «aufräumen», seither hat man nie wieder etwas aus Rom gehört. Der neue Bürgermeister des Dorfes versucht nun, jahrelang blockierte EU-Mittel zu aktivieren für bauliche Verbesserungen auf der Piste. «Das wäre schön, höchste Zeit», kommentiert Khady Sene.

«Sklavenähnliche Zustände mitten in Europa» benennt Filomena Guerrieri die Lage und beklagt das mangelnde Engagement der Politik. Die Anwältin arbeitet für das Anti-Menschenhandel-Netzwerk «La Puglia non tratta», zu Deutsch etwa «Apulien handelt nicht mit Menschen» oder auch: «Apulien meint es ernst». Die Organisation unterhält in der Region Foggia zwei anonyme Schutzwohnungen mit acht Plätzen. In Zusammenarbeit mit einer landesweiten Hotline bemüht sie sich, Kontakt zu den Frauen zu halten, die oft von Region zu Region weitergeschickt werden. Inzwischen verteilen italienische Hilfsorganisationen bereits an den Ankunftsorten der Boote Aufklärungsflugblätter an junge Frauen.

Doch sämtliche Hilfsstrukturen seien hoffnungslos unterfinanziert, sagt Guerrieri. Bei einem Prozess in Mailand vertrat sie vor Kurzem eine Klientin. Die Zuhälterin, die ihre Klientin mit falschen Versprechungen nach Europa gelockt hatte, wurde für Menschenhandel und Beihilfe zur Prostitution zu einer Haftstrafe verurteilt. Solche Erfolge seien selten. Die wenigsten Opfer trauten sich, überhaupt zur Polizei zu gehen, auch aus Angst um die Angehörigen zu Hause, an denen die Menschenhändler*innen mitunter grausame Racheakte verübten. Die Frauen befürchten ausserdem, sofort abgeschoben zu werden, sollten sie sich als Papierlose zu erkennen geben. «Zu oft kommen die Profiteur*innen des Menschenhandels ungeschoren davon», sagt die Anwältin. Ihre Arbeit sei häufig frustrierend, Erfolge seien selten, bilanziert Guerrieri. Und dennoch: «Jede Frau, die wir retten können, ist ein Grund, weiterzumachen.»