«Trotz allem was passiert ist, hasse ich die Kommunisten heute nicht mehr – ich habe Mitleid mit ihnen»: Ruhig sitzt Han Dongfang auf seinem Stuhl und lächelt, während er seine Lebensgeschichte erzählt. Aufgewachsen als Sohn einer armen Bauernfamilie, arbeitete Han Dongfang bei der Eisenbahn, als er 1989 «mehr aus Neugier» an den Studentenprotesten auf dem Tienanmen-Platz in Beijing teilnahm.
«Es war das erste Mal, dass ich das Wort Demokratie unabhängig vom Sozialismus hörte», erinnert er sich. Um sich darunter etwas vorstellen zu können, übertrug der damals 25-Jährige die Idee auf seine Arbeit und verkündete seine Gedanken spontan in einer öffentlichen Rede – womit er sich, «ohne viel dabei zu denken», zum Redner der ersten unabhängigen Gewerkschaft Chinas machte, die gerade mal zwei Wochen existieren sollte, bevor die Unruhen blutig zerschlagen wurden.
Chinas Lech Walesa
Den Morgen des 4. Juni wird Han Dongfang nie vergessen. «Ich schlief in unserem Zelt, als eine Gruppe Studenten kam und mir sagte, dass ich den Platz sofort verlassen müsse – es würde ein blutiges Massaker geben und ich dürfe nicht sterben. ‹Du bist Chinas Lech Walesa’›, sagten sie.» Noch heute hat Han Dongfang Mühe, mit dem Gewicht dieses Satzes umzugehen. «Immer wieder muss ich mir sagen, dass ich nur ein Mensch bin und so eine Bürde nicht tragen kann. Ich will das, was ich tue, aus freiem Willen tun.»
Obwohl er sich zuerst weigerte, schleusten ihn die Studenten vom Platz und gaben ihm ein Fahrrad für die Flucht. Auf diesem fuhr er durch die Dörfer, schlief in Wassermelonenfeldern und sprach mit Bauern über die Idee der Demokratie. «Ich realisierte nicht, in welcher Gefahr ich war», sagt Han Dongfang – bis er sich als «Wanted Person» am Fernsehen sah.
Freiwillig gestellt
Dass er sich damals freiwillig der Polizei stellte, bezeichnet er heute als naiv – doch vielleicht hat es ihm das Leben gerettet. Nach erstem Erstaunen wurde er von der Polizei in Haft genommen und in Einzelhaft gesteckt. Eine Woche lang wurde er Tag und Nacht befragt, warum er aufgegeben habe. «Aufgeben kann man nicht mit den Füssen, nur mit dem Kopf. Sie verstanden das nicht, doch sie respektierten meine Tapferkeit.»
Nach einer Woche ohne Schlaf wurde er in eine andere Haftanstalt gebracht, wo er eine 14 Quadratmeter grosse Zelle mit 20 Tuberkulose-Kranken teilte. «Sie wussten, dass es meine grösste Angst war, nicht lange genug zu leben, um das Regime kollabieren zu sehen», sagt Han Dongfang. Nach neun Monaten wurde er todkrank ins Militärspital gebracht, wo ihn seine Familie nach drei Wochen nach Hause holen konnte. 1992 kam er in die USA, seither ist Han Dongfang nie wieder auf dem chinesischen Festland gewesen – obwohl er es immer wieder versucht hat. Seit elf Jahren versucht er deshalb von Hongkong aus, seine Arbeit als Gewerkschaftsaktivist weiterzuführen.
1994 lancierte er das «China Labour Bulletin», das über die Arbeitsbedingungen in China informiert und die chinesischen Arbeiter dabei unterstützt, ihre Rechte einzufordern. Seit 1997 ist Han Dongfang auch über den Äther als Moderator bei «Radio Free Asia» aktiv, wo er mit Betroffenen über ihre Probleme spricht und sie davon zu überzeugen versucht, dass Gewalt keine Lösung ist. «Wir müssen den unheilvollen Kreislauf von langem Schweigen und gewalttätiger Explosion durchbrechen und eine zivile Gesellschaft aufbauen – dafür kämpfe ich auf legalem Weg.»
Han Dongfang weilte auf Einladung der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft in der Schweiz.
Erschienen im Magazin AMNESTIE! vom August 2005
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion¨