Kartenausschnitt aus der Region Tigray © Amnesty International. Map source © OpenMapTiles © OpenStreetMap contributors
Kartenausschnitt aus der Region Tigray © Amnesty International. Map source

Äthiopien Massaker an Zivilbevölkerung in der Region Tigray

Medienmitteilung 13. November 2020, London/Bern – Medienkontakt
Laut Recherchen von Amnesty International sind in der Nacht des 9. November in der Stadt Mai-Kadra im Südwesten der äthiopischen Region Tigray Dutzende oder gar Hunderte Menschen mit Messern und Macheten getötet worden.

Die Menschenrechtsorganisation hat zahlreiche Foto- und Videoaufnahmen ausgewertet und digital verifiziert, in denen zu sehen ist, wie in der ganzen Stadt Leichen gefunden und aufgebahrt wurden. Amnesty bestätigte, dass die Aufnahmen vor Kurzem angefertigt wurden, und verifizierte mithilfe von Satellitenaufnahmen, dass der Ort des Geschehens tatsächlich Mai-Kadra in der Region Tigray ist (14.071008, 36.564681).

 «Wir konnten bestätigen, dass ein Massaker an zahlreichen Zivilpersonen stattgefunden hat, die allem Anschein nach Tagelöhner waren und nichts mit der anhaltenden Militäroffensive zu tun hatten. Es handelt sich hier um ein schreckliches Geschehen, dessen wahren Umfang wir noch nicht absehen können, da Tigray zum Grossteil von der Aussenwelt abgeschnitten ist», so Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International.

«Wir konnten bestätigen, dass ein Massaker an zahlreichen Zivilpersonen stattgefunden hat, die allem Anschein nach Tagelöhner waren und nichts mit der anhaltenden Militäroffensive zu tun hatten. Es handelt sich hier um ein schreckliches Geschehen, dessen wahren Umfang wir noch nicht absehen können, da Tigray zum Grossteil von der Aussenwelt abgeschnitten ist» Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International

 «Die Regierung muss die Kommunikationskanäle nach Tigray wiederherstellen, um Rechenschaftspflicht und Transparenz für ihren Militäreinsatz in der Region zu gewährleisten. Zudem müssen humanitäre Einrichtungen und Organisationen zur Beobachtung der Menschenrechtslage uneingeschränkten Zugang zu der Region erhalten. Amnesty International wird nach wie vor alle Mittel einsetzen, um Menschenrechtsverstösse seitens aller Konfliktparteien zu dokumentieren und aufzudecken.»

Leichen und Verletzte in der ganzen Stadt

Die Organisation hat mit AugenzeugInnen gesprochen, die das Militär mit Lebensmitteln und anderen Gütern versorgten und am Morgen des 10. November, also unmittelbar nach dem tödlichen Angriff, in Mai-Kadra eintrafen. Sie fanden in der ganzen Stadt Leichen und Verletzte vor.

AugenzeugInnen und verifizierten Bildern zufolge wurden die meisten Toten im Stadtzentrum nahe eines Gebäudes der Commercial Bank of Ethiopia sowie entlang einer Strasse nach Humera aufgefunden.

Nach Amnesty International vorliegenden Informationen hatten die Leichen klaffende Wunden, die offenbar von scharfen Waffen wie Messern und Macheten stammten. Diese Berichte sind von einem unabhängigen Pathologen bestätigt worden. Laut Augenzeugenberichten waren keine Schusswunden sichtbar.

Die AugenzeugInnen gaben an, dass sie gemeinsam mit Angehörigen des Militärs einige Verwundete fanden und diese in Spitäler in Abreha-Jira und Gondar brachten, bevor sie die Leichen aus den Strassen entfernten.

 «Die Verletzten sagten, sie seien mit Macheten, Äxten und Messern angegriffen worden. Die Wunden der Toten lassen ebenfalls darauf schliessen, dass sie durch scharfe Objekte verursacht wurden. Es ist furchtbar und es macht mich traurig, dies in meinem Leben mitansehen zu müssen», berichtete ein verstörter Zeuge.

Amnesty International kann bisher nicht bestätigen, wer für die Tötungen verantwortlich ist. Die Organisation hat jedoch mit AugenzeugInnen gesprochen, die angaben, dass Unterstützende der Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People’s Liberation Front – TPLF) die Massentötung zu verantworten haben. Offenbar hatte das Militär zuvor in einem Gefecht einen Sieg über die TPLF errungen.

 «Die äthiopischen Behörden müssen unverzüglich eine gründliche, unparteiische und zielführende Untersuchung dieses Angriffs auf die Zivilbevölkerung einleiten und die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht stellen», forderte Deprose Muchena.

Noch steht die offizielle Zahl der Opfer in Mai-Kadra nicht fest. Die Medienagentur der Regionalregierung von Amhara, AMMA, berichtete jedoch von etwa 500 Opfern. Ein Mann, der half, die Leichen zu bergen, sagte Amnesty International, dass er anhand der Ausweispapiere einiger Getöteten erkennen konnte, dass die meisten von ihnen der ethnischen Gruppe der Amharen angehörten.

Hintergrund

Am 4. November 2020 entsandte Ministerpräsident Abiy Ahmed das äthiopische Militär in die Region Tigray, um gegen die paramilitärische Polizei der dortigen Regionalregierung und die Milizen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) vorzugehen. Er reagierte damit eigenen Angaben zufolge auf wiederholte Angriffe der Sicherheitskräfte von Tigray auf einen Militärstützpunkt in Mekelle und andere Militärlager in der Region.

Seit Ausbruch des Konflikts kommt es zu bewaffneten Zusammenstössen zwischen staatlichen Truppen (wie dem Militär, der Spezialpolizei der Region Amhara und lokalen Milizen in Amhara) einerseits und bewaffneten Einheiten in Tigray (wie der Spezialpolizei und den Milizen in Tigray) andererseits.

Das Verteidigungsministerium und der Ministerpräsident haben erklärt, dass die äthiopische Luftwaffe mehrere Luftangriffe gegen Militäreinrichtungen der TPLF durchgeführt habe. Der Ministerpräsident und Armeechef gaben an, weiterhin Luftangriffe auf spezielle nicht-zivile Ziele vornehmen zu wollen und wiesen die Anwohner_innen an, sich von Waffendepots und anderen militärischen Zielen fernzuhalten.

Laut Angaben des Uno-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) waren bis zum 11. November ungefähr 7000 Menschen aus dem Westen der Region Tigray in das Nachbarland Sudan geflohen.