Der Bericht ‘I Don't Know If They Realized I Was A Person’: Rape and Other Sexual Violence in the Conflict in Tigray zeigt auf, wie Frauen und Mädchen sexualisierter Gewalt durch Angehörige der äthiopischen Streitkräfte, des eritreischen Militärs, der paramilitärischen Spezialpolizei der Region Amhara und der Miliz Fano in Amhara ausgesetzt waren. Soldaten und Milizen setzten Frauen und Mädchen in Tigray Vergewaltigungen, Gruppenvergewaltigungen, sexueller Versklavung und anderen Formen der Folter aus. Viele Betroffene wurden während der Tat mit dem Tod bedroht und wegen ihrer ethnischen Herkunft beschimpft und gedemütigt.
Zwischen März und Juni 2021 sprach Amnesty International mit 63 Überlebenden von Vergewaltigung und anderer sexualisierter Gewalt. 15 davon wurden persönlich im Sudan befragt und 48 über sichere Telefonleitungen. Medizinisches Fachpersonal und humanitäre Helfende, die in den Städten Shire und Adigrat sowie in Flüchtlingslagern im Sudan Überlebende behandeln oder unterstützen, wurden ebenfalls von Amnesty International befragt. Sie gaben Auskunft über das Ausmass der sexualisierten Gewalt und bestätigten Informationen über bestimmte Fälle.
Vergewaltigung als Kriegswaffe
«Es ist klar, dass Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt als Kriegswaffen eingesetzt wurden, um Frauen und Mädchen in Tigray dauerhafte physische und psychische Schäden zuzufügen. Hunderte von ihnen wurden brutal misshandelt, um sie zu erniedrigen und zu entmenschlichen», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
«Die Schwere und das Ausmass der Gewalt sind besonders schockierend und kommen Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Die Schwere und das Ausmass der Gewalt sind besonders schockierend und kommen Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Die äthiopische Regierung muss unverzüglich Massnahmen ergreifen, um Angehörige der Streitkräfte und verbündeter Milizen von sexualisierter Gewalt abzuhalten, und die Afrikanische Union (AU) sollte keine Mühen scheuen, um sicherzustellen, dass der Konflikt dem Friedens- und Sicherheitsrat der AU vorgelegt wird.»
Das Muster der sexualisierten Gewalttaten, bei denen viele Überlebende auch der Vergewaltigung anderer Frauen und Mädchen beiwohnen mussten, deutet darauf hin, dass sexualisierte Gewalt weit verbreitet war und darauf abzielte, die Betroffenen und weitere Angehörige ihrer ethnischen Gruppe zu terrorisieren und zu demütigen. Zwölf Überlebende gaben an, dass Soldaten und Milizen sie vor Familienmitgliedern, einschliesslich Kindern, vergewaltigt haben. Fünf von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt schwanger.
Opfer schwer traumatisiert
Gesundheitseinrichtungen in Tigray registrierten 1288 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt im Zeitraum von Februar bis April 2021. Das Spital von Adigrat verzeichnete 376 Vergewaltigungsfälle seit Beginn des Konflikts bis zum 9. Juni 2021. Viele Überlebende vertrauten Amnesty International jedoch an, dass sie keine Gesundheitseinrichtungen aufgesucht haben. Dies lässt darauf schliessen, dass diese Zahlen nur einen kleinen Teil der Vergewaltigungen im Kontext des Konflikts darstellen.
Die Überlebenden leiden nach wie vor unter erheblichen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Viele klagten über körperliche Traumata wie anhaltende Blutungen, Rückenschmerzen, Mobilitätsverlust und Fisteln. Einige wurden nach der Vergewaltigung positiv auf HIV getestet. Schlaflosigkeit, Angstzustände und psychische Probleme sind bei Betroffenen und Familienmitgliedern, die Zeug*innen der Gewalt wurden, weit verbreitet.
Soldaten und Milizionäre haben ihre Opfer wiederholt gedemütigt, wobei sie häufig diskriminierende Verunglimpfungen mit ethnischem Bezug sowie Beleidigungen, Drohungen und erniedrigende Kommentare benutzten. Mehrere von Amnesty International befragte Überlebende gaben an, die Vergewaltiger hätten ihnen gesagt: «Das habt ihr verdient» und «Ihr seid widerlich».
Betroffene und Zeug*innen berichteten Amnesty International, dass sie nur begrenzte oder gar keine psychosoziale und medizinische Unterstützung erhalten haben, seit sie in den Lagern für Binnenvertriebene in der Stadt Shire in Äthiopien bzw. in Flüchtlingslagern im Sudan angekommen seien.
Die Überlebenden litten auch darunter, dass medizinische Einrichtungen zerstört wurden und der Personen- und Warenverkehr eingeschränkt waren, was den Zugang zu medizinischer Versorgung behinderte. Die Überlebenden und ihre Familien gaben an, dass es ihnen aufgrund der begrenzten humanitären Hilfe an Nahrungsmitteln, Unterkünften und Kleidung mangelt.
Abgeschottet von der Aussenwelt
Berichte über sexualisierte Gewalt blieben in den ersten beiden Monaten des Konflikts, der im November 2020 begann, weitgehend vor der Aussenwelt verborgen. Die äthiopische Regierung hat den Zugang zur Region stark eingeschränkt und Kommunikationskanäle gekappt.
«Zusätzlich zu ihrem Leid und Trauma wurden die Betroffenen ohne angemessene Unterstützung zurückgelassen.»
«Zusätzlich zu ihrem Leid und Trauma wurden die Betroffenen ohne angemessene Unterstützung zurückgelassen. Sie müssen Zugang zu den Dienstleistungen erhalten, die sie benötigen und auf die sie einen Anspruch haben – einschliesslich medizinischer Behandlung, Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts, psychologischer Betreuung und psychosozialer Unterstützung. Dies sind wesentliche Massnahmen für eine angemessene Unterstützung der Überlebenden», sagte Agnès Callamard.
«Alle mutmasslichen Fälle sexualisierter Gewalt müssen wirksam, unabhängig und unparteiisch untersucht werden, um sicherzustellen, dass die Überlebenden Gerechtigkeit erfahren. Zudem muss ein wirksames Rehabilitations- und Entschädigungsprogramm eingerichtet werden. Alle Konfliktparteien müssen ausserdem den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe sicherstellen.»
Seit Beginn der Konflikte in der Region am 4. November 2020 wurden Tausende Zivilpersonen getötet und Hunderttausende Menschen innerhalb von Tigray vertrieben. Zehntausende sind in den Sudan geflohen.