«Erst schiessen, später fragen»: Nach diesem Grundsatz handelt offenbar die Militärpolizei in Rio de Janeiro. Insgesamt 1519 Menschen starben in den letzten fünf Jahren durch die Hand von Polizeibeamten in der künftigen Olympiastadt. Allein in der Favela von Acari, im Norden der Stadt, war in mindestens neun von zehn Fällen von Tötungen durch die Polizei im Jahr 2014 der Tatbestand einer aussergerichtlichen Hinrichtung erfüllt, wie Amnesty nachweisen kann.
Die zwei Gesichter von Rio
«Rio de Janeiro ist wie zwei Städte: Die eine führt der Welt Glanz und Glamour vor, die andere ist geprägt von repressiven Polizeieinsätzen, die einen gewichtigen Teil einer ganzen Generation junger, schwarzer, armer Männer dezimiert», sagt Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien.
«Brasiliens Strategie im ‚Krieg gegen die Drogen‘, mit dem die tatsächlich höchst prekäre öffentliche Sicherheitslage verbessert werden sollte, ist gewaltig nach hinten losgegangen. Sie zieht eine Spur von Leid und Verwüstung hinter sich her. Eine gewalttätige und unterdotierte Polizei, eine bitterarme, marginalisierte und nahezu unsichtbare Bevölkerungsschicht und dazu eine Justiz, die bei der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen systematisch versagt, ergeben einen explosiven Mix, der viel zu viele Menschenleben kostet.»
Untersuchungen von Amnesty International verweisen auf willkürliche und unverhältnismässige Gewaltanwendung durch die Polizei während Sicherheitseinsätzen in den Favelas von Rio de Janeiro. Die grosse Mehrheit der Menschen, die durch die Polizei umgebracht werden, sind junge schwarze Männer zwischen 15 und 29.
Opfer zu Schuldigen gemacht
Untersucht werden solche Tötungen kaum je. Wird jemand während eines Polizeieinsatzes getötet, so erstellt ein ziviler Polizeibeamter einen Rapport, um festzustellen, ob es sich um Selbstverteidigung handelte oder ob eine Strafverfolgung erforderlich ist. In der Praxis werden sehr viele Fälle als so genannter «Widerstand mit Todesfolge» registriert, womit eine unabhängige Untersuchung der genaueren Umstände verhindert und die Täter vor einer zivilen Strafverfolgung geschützt werden. Im Endeffekt werden die ermordeten Menschen für ihren eigenen Tod verantwortlich gemacht – auch wenn sie nicht im geringsten Widerstand leisteten.
Amnesty International hat auch festgestellt, dass Polizeibeamte am Tatort häufig Spuren verwischen oder manipulieren, beispielsweise indem sie dem Opfer eine Waffe oder andere «Beweisstücke» unterschieben. Wird dem Opfer Drogenhandel vorgeworfen, so konzentriert sich eine allfällige Untersuchung auf das Profil des Straftäters, um den Mord zu rechtfertigen.
Eduardo de Jesus (10) – ein Fallbeispiel
Eduardo de Jesus war zehn Jahre alt, als er am 2. April 2015 vor der Haustür seiner Eltern in der Favela Complexo do Alemão erschossen wurde. Es passierte innert Sekunden, berichtet seine Mutter Terezinha Maria de Jesus: «Ich hörte einen Knall und einen Schrei…. als ich nach draussen lief, lag mein Sohn tot vor dem Haus.» Als sie die Militärpolizisten, die vor der Leiche ihres Sohnes standen, damit konfrontierte, richtete einer das Gewehr auf sie und meinte: «Wenn ich deinen Sohn erschossen habe, kann ich auch dich erschiessen, denn ich habe den Sohn einer Kriminellen getötet.»
Die Spuren am Tatort wurden gemäss Aussage der Mutter fast unmittelbar danach von den Polizisten vertuscht. Sie wollten auch Eduardos Leiche wegtragen, doch die Nachbarn hinderten sie daran. Ein Polizist versuchte ein Gewehr neben ihn zu legen, um ihn zu beschuldigen.
Die verantwortlichen Polizeibeamten wurden am Tag danach aus dem Dienst entlassen, ihre Waffen wurden ihnen zwecks gerichtlicher Untersuchung weggenommen. Der Vorfall wird vom polizeilichen Mordinspektorat untersucht. Doch die meisten Fälle werden tatsächlich niemals sorgfältig untersucht und die Verantwortlichen nur selten vor Gericht gebracht.