Bewaffneten Banden haben das Viertel Poste Marchand in Port-au-Prince besetzt. Viele Familien flohen aus dem Viertel und gehören nun zu den Tausenden von Vertriebenen , die in anderen Teilen der Hauptstadt Zuflucht suchten. © Anadolu via Getty Images
Bewaffneten Banden haben das Viertel Poste Marchand in Port-au-Prince besetzt. Viele Familien flohen aus dem Viertel und gehören nun zu den Tausenden von Vertriebenen , die in anderen Teilen der Hauptstadt Zuflucht suchten. © Anadolu via Getty Images

Haiti Kinder werden Opfer von sexualisierter und physischer Gewalt

Medienmitteilung 10. Februar 2025, London/Bern – Medienkontakt
Die unerbittliche Gewalt der Banden in Port-au-Prince und Umgebung zerstört das Leben vieler Kinder in Haiti. In den von Gangs kontrollierten Vierteln der Hauptstadt leiden Kinder unter massiver sexualisierter und physischer Gewalt. Zu diesem Schluss kommt ein neuer Bericht von Amnesty International.

Der englischsprachige Bericht «I’m a child, why did this happen to me?: Gangs’ assault on childhood in Haiti» dokumentiert die schweren Menschenrechtsverletzungen, denen Kinder inmitten des Bandenkrieges in Haiti ausgesetzt sind. Amnesty International dokumentiert unter anderem die Rekrutierung von Kindern durch Banden, Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt, Entführungen, Tötungen und Verletzungen.

Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 ist die Gewalt durch bewaffnete Banden in Haiti eskaliert und hat im vergangenen Jahr schätzungsweise 5600 Menschenleben gefordert. Banden kontrollieren den Grossteil der Hauptstadt Port-au-Prince. Mehr als 5,5 Millionen Menschen benötigen dringend humanitäre Hilfe.


«Kinder in Haiti, die Opfer der Bandengewalt werden, haben sie keine Stelle, an die sie sich wenden können, um Schutz oder Gerechtigkeit zu erhalten. Die Behörden gehen mit willkürlichen Inhaftierungen gegen die Kinder vor.» Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International

«Kriminelle Banden haben in Haiti grosses Leid verursacht. Sie bedrohen, schlagen, vergewaltigen und töten Kinder. », sagt Agnès Callamard, die internationale Generalsekretärin von Amnesty International.

«Kinder in Haiti, die Opfer der Bandengewalt werden, haben keine Stelle, an die sie sich wenden können, um Schutz oder Gerechtigkeit zu erhalten. Die Behörden gehen mit willkürlichen Inhaftierungen gegen die Kinder vor. Bürgerwehren jagen Kinder und töten viele von ihnen. Es ist an der Zeit, dass die haitianischen Behörden und die internationale Gemeinschaft, auch die Geberländer, handeln. Jeden Tag wird das Leben von Kindern zerstört. Haiti braucht dringend Unterstützung, um Kinder zu schützen und die Gewaltspirale zu stoppen.»

Schätzungen zufolge leben mehr als eine Million Kinder in Gegenden, die von Banden kontrolliert werden oder unter deren Einfluss stehen. Amnesty-Vertreter*innen haben Port-au-Prince im September 2024 besucht und vor Ort mit 112 Personen gesprochen. Zu den Befragten gehörten Kinder, Regierungsangehörige, Mitarbeiter*innen haitianischer und internationaler Hilfsorganisationen sowie Uno-Mitarbeiter*innen. Die Untersuchung dokumentierte Menschenrechtsverletzungen in acht Gemeinden des Départements Ouest.

Im Dezember 2024 schrieb Amnesty International an das Büro von Premierminister Alix Didier Fils-Aimé und legte ihm eine Zusammenfassung der Ergebnisse vor. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts lag noch keine Antwort vor.

Entführung und sexualisierte Gewalt

Bandenmitglieder entführen und vergewaltigen Mädchen und setzen sie anderer sexualisierter Gewalt aus, wenn sie Stadtviertel überfallen oder die Kontrolle über diese übernehmen. Mädchen werden auf der Strasse oder aber gezielt in ihrem Zuhause angegriffen. Bandenmitglieder beuten Mädchen sexuell aus, sei es in «Beziehungen» oder indem sie sie zu Sexarbeit zwingen.

Amnesty International hat die Fälle von 18 Mädchen dokumentiert, die von Bandenmitgliedern vergewaltigt und anderen Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt wurden. In zehn Fällen wurden die Mädchen von einer Gruppe Männer vergewaltigt, in neun Fällen wurden sie entführt. Nach internationalem Recht sind Staaten verpflichtet, Kinder vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch, darunter auch Prostitution, zu schützen.

Zwei minderjährige Schwestern wurden auf dem Rückweg von der Schule von Bandenmitgliedern entführt und vergewaltigt, eine von fünf Männern, die andere von sechs. Eine der Schwestern sagt gegenüber Amnesty International: «Ich bin ein Kind, warum ist mir das passiert?»

Mehrere Mädchen berichteten Amnesty International, aufgrund einer Vergewaltigung schwanger geworden zu sein. Da Schwangerschaftsabbrüche in Haiti unter Strafe stehen, griffen einige von ihnen auf unsichere Methoden zurück, um ihrer unerwünschten Schwangerschaft ein Ende zu setzen.

Kinder, die gewerbsmässig sexuelle Handlungen ausüben, sind von sexueller Ausbeutung betroffen. Ein 16-jähriges Mädchen aus einer Gegend, die unter der Kontrolle der Bande 5 Segond steht, erzählte, sie habe sich erstmalig auf gewerbsmässigen Sex mit Bandenmitgliedern eingelassen, nachdem sie und ihr Kind wiederholt nichts zu essen hatten. Sie sagte: «Ich habe keine Wahl, Sie sehen dich und sagen, ‚Komm mit!‘. Lehnst du ab, schlagen sie dich mit einer Waffe. Sie packen dich, und sie treten dich. Einige bezahlen. Andere nicht.»

Mädchen, die sexualisierter Gewalt durch Bandenmitglieder ausgesetzt waren, benötigen eine fachärztliche Behandlung, um ihre physische und psychische Genesung zu unterstützen. Die wenigen verfügbaren Gesundheitsdienste in Haiti sind jedoch immer wieder Bandenangriffen ausgesetzt.

Angesichts der allgemeinen Straflosigkeit in Haiti sehen sich Überlebende beim Zugang zur Justiz mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert. Viele der Befragten wagten es nicht, Anzeige bei den Behörden zu erstatten, da es in den von Banden kontrollierten Gebieten keine Ordnungskräfte gibt. Ein vergewaltigtes Mädchen sagte gegenüber Amnesty International: «Es gibt keine Polizei. Das Sagen haben ausschliesslich die Mitglieder der Bande.»

Rekrutierung von Kindern

Amnesty International befragte elf Jungen und drei Mädchen, die von Banden rekrutiert und eingesetzt wurden. Sie mussten rivalisierende Banden und die Polizei überwachen, Lieferungen ausführen oder häusliche Aufgaben, Bauarbeiten oder Fahrzeugreparaturen erledigen. Alle 14 Kinder gaben an, keine Wahl gehabt und hauptsächlich aus Angst oder Hunger gehandelt zu haben.

Ein zwölfjähriger Junge gab an, er sei von Mitgliedern der Bande Grand Ravine gezwungen worden, als Informant zu arbeiten: «Sie hätten mich umgebracht, wenn ich es nicht getan hätte.» Ein anderer Junge im Grundschulalter sagte, er sei von einer Bande gezwungen worden, eine Waffe zu tragen, um Straftaten zu begehen. Er sagte zu Amnesty International: «Was ich getan habe, habe ich nicht mit ganzem Herzen getan. Ich habe nicht verstanden, was ich da tue. Ich hatte eine Waffe, aber nicht, um andere zu verletzen, sondern um für mich selbst zu sorgen.» Einige Kinder wurden geschlagen und bedroht, wenn sie sich weigerten, Befehlen Folge zu leisten.

Die Vereinten Nationen und zivilgesellschaftliche Gruppen haben die Tötung von Kindern und Erwachsenen dokumentiert, die von Bürgerwehren, die Teil der sogenannten Bwa-Kale-Bewegung sind, verdächtigt werden, mit Banden in Verbindung zu stehen. Einige Kinder gaben an, ihre Verbindung zu Banden geheim gehalten zu haben, aus Angst vor Vergeltung durch Bewohner*innen. Ein Junge erzählte: «Wenn jemand mit dem Finger auf mich zeigt, könnte mich das das Leben kosten.»

Die Regierung hält zahlreiche Kinder, darunter viele, die von Banden rekrutiert und eingesetzt worden sein sollen, zusammen mit erwachsenen Häftlingen in einer überfüllten Einrichtung fest, die ursprünglich für die Rehabilitierung von Jungen gedacht war. Zum Zeitpunkt der Recherche war noch keiner der Jungen verurteilt worden, da das Jugendgericht von Port-au-Prince seine Arbeit 2019 eingestellt hat.

Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch Banden in Haiti ist nach internationalem und nationalem Recht verboten; neben vielen anderen Menschenrechtsverstössen werden die Kinder dadurch Menschenhandel ausgesetzt.

Tötungen und Verletzungen

Bei Überfällen von Banden auf Stadtviertel werden häufig Kinder getötet und verletzt. In Gebieten, die von Banden kontrolliert werden, sind sie sowohl wahllosen Angriffen als auch direktem Beschuss ausgesetzt. Amnesty International hat die Fälle von zehn verletzten und zwei getöteten Kindern dokumentiert, die durch von Banden verübte Gewalt und damit verbundene Vorfälle ums Leben kamen. Sie waren zwischen fünf und 17 Jahren alt. In mindestens zwei Fällen gerieten sie in einen Schusswechsel zwischen Banden und der Polizei.

Ein 14-jähriges Mädchen beschrieb, wie ihr Gesicht von einer abprallenden Kugel verletzt wurde, die von einem Bandenmitglied im September 2024 in der Nähe ihres Hauses abgefeuert wurde. Sie sagte: «Das ist keine friedliche Gegend. Es gibt ständig Ärger. Es gibt so viele Schiessereien. Ich hasse die Schiessereien.» Ihr Bruder war drei Monate zuvor getötet worden, ebenfalls durch eine verirrte Kugel, die in ihrem Viertel abgefeuert wurde.

Der psychische Schaden, den Kinder dabei erleiden, ist enorm. Ein 13-jähriges Mädchen erlebt immer wieder Flashbacks von dem Tag, an dem Bandenmitglieder ihre Familie mit einer Waffe bedrohten und ihr Haus niederbrannten. Sie sagte: «Ich habe Leichen gesehen ... Ich habe Albträume, ich kann nicht schlafen. Früher konnte ich ohne Probleme lernen. Jetzt fällt es mir schwer.»

Kinderschutzplan dringend nötig

Kinder, die mit Banden zu tun haben, sind in erster Linie Opfer. Amnesty International ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, mit den haitianischen Behörden und der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um dem Kreislauf der Gewalt ein Ende zu setzen.

«Die haitianische Regierung und die internationalen Geberländer sollten zusammenarbeiten, um einen umfassenden und integrativen Kinderschutzplan zu entwickeln», sagt Agnès Callamard. «Programme zur wirksamen Entwaffnung und Wiedereingliederung von Kindern, die mit Banden in Verbindung stehen, sowie zur Bereitstellung umfassender medizinischer und rechtlicher Unterstützung für Überlebende sexualisierter Gewalt haben Priorität. Die Regierung sollte gegen die Straflosigkeit vorgehen, indem sie die juristische Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen vorantreibt. Der massive Zustrom von Schusswaffen nach Haiti, der die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen der Banden ermöglicht, muss kontrolliert werden. Solange die Bandengewalt und die allgemeine Menschenrechtskrise andauern, dürfen Geflüchtete nicht nach Haiti zurückgeschafft werden.»