José Rosario Hernández ist einer von 1700 Menschen, die seit 2007 im Bundesstaat Chihuahua vermisst werden. Mexiko, 2015. © Amnesty International.
José Rosario Hernández ist einer von 1700 Menschen, die seit 2007 im Bundesstaat Chihuahua vermisst werden. Mexiko, 2015. © Amnesty International.

Verschwindenlassen in Mexiko Inkompetenz und Untätigkeit der Regierung

14. Januar 2016
Verschwundene Menschen gehören in Mexiko zum traurigen Alltag. Den Behörden fehlt es an Willen und Kompetenzen, erzwungenes Verschwindenlassen angemessen zu untersuchen. Die Krise der Verschwundenen hat in Mexiko schon längst ein epidemisches Ausmass angenommen: Der neue Bericht von Amnesty International zählt Tausende von Fällen.

Der Bericht «Treated with Indolence: The state’s response to disappearances in Mexico» legt offen, dass die Mängel, die bei der Untersuchung des Verschwindens von 43 Studenten im südlichen Bundesstaat Guerrero sichtbar wurden, in ähnlicher Form im nördlichen Gliedstaat Chihuahua und im gesamten Land auftreten. Gemäss offiziellen Zahlen ist der Verbleib von mehr als 27'000 Personen ungeklärt. Viele der Betroffenen wurden gewaltsam entführt.

Erika Guevara-Rosas, Amerika-Direktorin von Amnesty International, sagt: «Die ungebrochene Welle verschwundener Personen, die Chihuahua überrollt, und die äusserst leichtfertige Weise, in der die Untersuchung des erzwungenen Verschwindens der 43 Studenten in Ayotzinapa gehandhabt wurde, machen deutlich wie die mexikanischen Behörden Menschenrechte und menschliche Würde komplett missachten.»

«Tragischerweise», so Guevara-Rosas weiter, «ist das Verschwinden von Menschen in Mexiko dermassen verbreitet, dass es beinahe Alltag geworden ist. In den seltenen Fällen, in denen Untersuchungen stattfinden, sind diese in erster Linie eine Formalität, die dazu dient, vorzugeben, dass die Behörden nicht untätig sind.»

Behördliche Inkompetenz in Ayotzinapa…

In vielen Fällen von verschwundenen Personen, wurden diese zuletzt bei einer Verhaftung der Polizei oder einer Kontrolle durch das Militär gesehen. Da es in Mexiko aber kein detailliertes Verhaftungsregister gibt, streiten die Behörden ihre Verantwortung an erzwungenem Verschwindenlassen ab.

Wenn Verwandte das Verschwinden von Personen der Polizei melden, tendiert diese dazu, die Opfer als Mitglieder von Drogenkartellen zu bezeichnen und ihr Verschwinden als Resultat von Konflikten zwischen rivalisierenden Banden darzustellen. Die Suche nach den als verschwunden Gemeldeten findet häufig erst mit Verzögerung statt – oder überhaupt nicht. Die seltenen Untersuchungen, die tatsächlich stattfinden, sind in der Regel dermassen mangelhaft, dass sie kaum je zu Resultaten führen. 

Im Fall des erzwungenen Verschwindens der 43 Studenten in Ayotzinapa ist das behördliche Versagen beim Durchführen einer seriösen und unabhängigen Untersuchung deutlich belegt. Die Untersuchung fokussierte durchgängig auf eine einzige Hypothese zum Tathergang (dass die Studenten von der lokalen Polizei verhaftet wurden, im Anschluss einer kriminellen Bande übergeben wurden und ihre Leichen in einer örtlichen Müllhalde verbrannt wurden). Ein internationales Expertenkomitee, zusammengestellt von der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, wies die Theorie, dass die Leichen der Studenten verbrannt worden waren, aufgrund der Beweislage kategorisch zurück. 

Die mangelhafte Untersuchung, die bis anhin stattgefunden hat, konnte keine Verantwortlichkeit auf höheren Hierarchiestufen feststellen. Die Tatorte wurden weder abgesperrt, noch sorgfältig gefilmt oder fotografiert. Ballistisches Beweismaterial wurde gesammelt, aber nicht auf Blutspuren oder Fingerabdrücke untersucht. Weiteres wichtiges Beweismaterial wurde nicht korrekt gehandhabt.

… und in Chihuahua

Die Berichterstatter von Amnesty International stiessen auf ähnliche Beispiele von behördlicher Inkompetenz bei Untersuchungen des Verschwindens von Personen im nördlichen Teilstaat Chihuahua. In mindestens einem Fall trugen die Behörden dazu bei, das Verschwinden von Personen zu vertuschen. Seit 2007 sind gegen 1700 Personen in Chihuahua verschwunden.

In den meisten Fällen versäumten es die Behörden, zentrale Ermittlungshandlungen vorzunehmen. Beispiele sind das Untersuchen von Telefonprotokollen, Bankdokumenten und Finanztransaktionen von Opfern oder Tatverdächtigen, die Untersuchung von Mobilfunkdaten oder das Überprüfen von Videoüberwachungsmaterial.

Angehörige machen sich selbst auf die Suche

Verwandte von Verschwundenen sehen sich aufgrund dieser schwerwiegenden Fehler gezwungen, selber aktiv zu werden. Manche reisen auf der Suche nach ihren Verwandten durch das Land oder versuchen Beweismaterial zu sammeln, andere beauftragen Privatdetektive mit der Suche.

Die Informationen, die von Familienangehörigen bereitgestellt werden, tragen in der Regel nur dazu bei, den Umfang der Untersuchungsakten zu vergrössern. Nur in seltenen Fällen werden sie von den Behörden dazu verwendet, neue Untersuchungsrichtungen auszuloten oder allen verfügbaren Hinweisen nachzugehen.

José Rosario Hernández verschwand am 23. Oktober 2011, nachdem ihn eine Patrouille der lokalen Polizei festgenommen hatte. Er war mit zwei Freunden mit dem Auto unterwegs in Ciudad Cuauhtémoc, Chihuahua. Sein Verbleib ist ungeklärt.

In den Tagen nach seinem Verschwinden verweigerten die Behörden gegenüber seiner Familie jegliche Auskunft. Mitglieder der Verkehrspatrouille und der örtlichen Polizei verneinten sogar, dass Hernández festgenommen worden war – ungeachtet der Tatsache, dass Zeugen die Verhaftung beobachtet hatten und die Behörden das Auto von Hernández mit einem Kran hatten entfernen lassen.

Der Familie gelang es schliesslich, den Polizeibeamten, der Hernández festgenommen hatte, zu identifizieren. Sie verlangte von ihm über das Vorgefallene aufgeklärt zu werden, der Beamte verweigerte indes jegliche Auskünfte. Der Polizist wurde schliesslich dank der Bemühungen und des wiederholten Ersuchens der Familie und ihrer Rechtsvertreter festgenommen. Der Beginn des Gerichtsprozesses ist für Januar 2016 vorgesehen. Trotzdem bleibt die Untersuchung des Verschwindens von José Rosario Hernández mangelhaft und die Behörden versäumten es, Informationen nachzugehen, die den Verbleib von Hernández klären könnten.

Die Mutter der 22-jährigen Brenda Karina Ramírez nahm die Suche nach ihrer Tochter in die eigenen Hände, nachdem die Behörden es versäumt hatten, das tragische Verschwinden von Brenda ordnungsgemäss zu untersuchen. Brenda verschwand am 19. Juli 2011, nachdem sie von bewaffneten Männern aus dem Haus von Verwandten in Ciudad Cuahtémoc mitgenommen worden war.

Als Brendas Mutter schliesslich Einblick in die offizielle Untersuchungsakte erhielt, war diese praktisch leer. Die Mutter sagte gegenüber Amnesty International: «In der Akte meiner Tochter befindet sich lediglich, was ich selber eingereicht habe, nichts Weiteres.»

Untersuchungen des Verschwindens von Personen werden auch durch Macht und Einfluss der Drogenkartelle behindert. Verwandte einer weiteren verschwundenen Person sagten, Mitglieder des Büros der Staatsanwaltschaft von Chihuahua hätten sich angeblich geweigert, Ermittlungen in einem bestimmten Gebiet des Staates vorzunehmen. Die Begründung lautete: «Wir haben Angst, wir können da nicht hingehen.»

Fehlende Ressourcen

Die schwerwiegenden Fehler in den Untersuchungen werden auch dadurch verursacht, dass Staatsanwaltschaften, die für die Ermittlungen zuständig sind, häufig mit zu wenig finanziellen Mitteln ausgestattet sind. Die Behörden sehen sich konfrontiert mit einer kaum überschaubaren Zahl von Akten und einer hohen Personalfluktuation.

«Aufgrund der Unfähigkeit der mexikanischen Regierung, das Verschwinden von Personen angemessen zu untersuchen, werden Tausende Menschen gefährdet», sagte Erika Guevara-Rosas.

«Um das tragische Verschwinden weiterer Personen zu verhindern, müssen die mexikanischen Behörden eine politische Strategie entwickeln», so Guevara-Rosas weiter. «Sie müssen wirksame Ermittlungen und Suchvorgänge durchführen, die Täter zur Verantwortung ziehen und sicher stellen, dass die Opfer angemessen entschädigt werden.»

Neuer Gesetzesentwurf ungenügend

Am 10. Dezember 2015 unterbreitete Präsident Enrique Peña Nieto dem Parlament einen Gesetzesvorschlag, der die Krise der Verschwundenen angehen sollte. Der Entwurf vermag aber in mehreren zentralen Aspekten internationalen Standards nicht zu genügen. Das mexikanische Parlament muss den Vorschlag substanziell verbessern, wenn er ein wirksames Instrument für die Wahrheitsfindung, Herstellung von Gerechtigkeit und Genugtuung für die Opfer sein und das Verschwinden weiterer Personen verhindern soll.