© Kiana Hayeri / Amnesty International
© Kiana Hayeri / Amnesty International

Afghanistan Taliban hebeln Menschenrechte aus

Medienmitteilung 21. September 2021, London/Bern – Medienkontakt
Die Taliban sind dabei, die Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre im Bereich der Menschenrechte kontinuierlich zu demontieren, schreiben Amnesty International, die Internationale Föderation für Menschenrechte (FIDH) und die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) in einem heute veröffentlichten Briefing, das das weitreichende Vorgehen der Gruppe seit ihrer Eroberung von Kabul vor etwas mehr als fünf Wochen dokumentiert.

Entgegen den wiederholten Beteuerungen der Taliban, sie würden die Rechte der Bevölkerung respektieren, zeigt das Briefing «Afghanistan’s fall into the hands of the Taliban» eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen auf, darunter gezielte Tötungen von Zivilist*innen und sich ergebenden Soldaten sowie die Blockade humanitärer Hilfslieferungen im Panjshir-Tal. Auch die Rechte von Frauen, die Meinungsfreiheit und die Zivilgesellschaft wurden erneut eingeschränkt. 

Der Bericht beschreibt, wie Frauen verboten wurde, ihrer Arbeit nachzugehen, und Mädchen gehindert wurden, die Schule zu besuchen.

«In den gut fünf Wochen seit der Übernahme der Kontrolle über Afghanistan haben die Taliban deutlich gezeigt, dass es ihnen mit dem Schutz und der Achtung der Menschenrechte nicht ernst ist», sagte Dinushika Dissanayake, stellvertretende Direktorin von Amnesty International für Südasien. Der Bericht beschreibt, wie Frauen verboten wurde, ihrer Arbeit nachzugehen, und Mädchen gehindert wurden, die Schule zu besuchen. Die Taliban schlugen Proteste gewaltsam nieder und schränkten die Rechte von Medien und der Zivilgesellschaft stark ein.

Klima der Angst 

Seit dem 15. August werden fast täglich Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen gemeldet. Die Taliban suchen von Tür zu Tür nach Menschenrechtsverteidiger*innen und zwingen viele von ihnen, sich zu verstecken. 

Die Forscher sprachen mit Mahmud, einem afghanischen Menschenrechtsverteidiger, dem es gelungen ist, das Land zu verlassen. Mahmud beschrieb, wie er an dem Tag, als die Taliban in Kabul einmarschierten, einen Anruf erhielt, in dem er aufgefordert wurde, sein Fahrzeug, die Ausrüstung und das Geld seiner Organisation an die Taliban zu übergeben. Der Anrufer kannte seinen Namen und warnte ihn, er habe keine andere Wahl als zu kooperieren. 

In den folgenden Tagen erhielt Mahmud weitere Anrufe und WhatsApp-Nachrichten, in denen er nach seiner Privatadresse gefragt und aufgefordert wurde, sich mit ihm an bestimmten Orten zu treffen. Zwei Kollegen seiner Nichtregierungsorganisation waren von den Taliban verprügelt worden. Bilder, die von einem seiner Mitarbeiter geteilt und von Amnesty International und einem Gerichtsmediziner bestätigt wurden, zeigen Peitschenhiebe auf den Rücken und Blutergüsse am linken Arm des Opfers.

«Die Bedrohung für Menschenrechtsverteidiger, die nicht aus Afghanistan ausreisen konnten, ist real. Sie werden an allen Fronten angegriffen, da sie als Feinde der Taliban gelten. Ihre Büros und Wohnungen wurden gestürmt. Ihre Kollegen wurden verprügelt. Sie sind gezwungen, sich ständig zu verstecken. Sie leben unter der ständigen Bedrohung von Verhaftung, Folter oder Schlimmerem. Diejenigen, denen es gelungen ist, das Land zu verlassen, sitzen nun in Militärlagern oder in Nachbarländern fest, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen und wie sie ihr über Nacht zerstörtes Leben wieder aufbauen können», sagte Delphine Reculeau, Programmdirektorin für Menschenrechtsverteidiger*innen bei der Weltorganisation gegen Folter (OMCT). 

In Kabul lebende Journalistinnen, mit denen Amnesty International sprach, berichteten von den Drohungen und Einschüchterungen, denen sie nach der Machtübernahme der Taliban ausgesetzt waren. Aadila beschrieb die ersten zwei Wochen der Taliban-Herrschaft als eine Zeit der Angst und Unsicherheit. Sie hatte zunächst beschlossen, in Afghanistan zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen, bis die Taliban eines Nachts zu ihrem Haus kamen und nach ihr fragten. Auf Drängen von Verwandten verliess sie kurz darauf das Land.

Abdul sagte, dass Redakteure, Journalisten und Medienmitarbeitende von den Taliban die Anweisung erhalten hätten, dass sie nur im Rahmen der Scharia und der islamischen Regeln und Vorschriften arbeiten dürften. «Ich habe mich seit dem Fall der Republik nicht mehr bei meiner Arbeit gemeldet. Die Taliban kamen mehrmals zu meinem Haus, aber ich habe mich versteckt. Seit dem Zusammenbruch ist unser Büro geschlossen», sagte er.

Frauen und Mädchen und das Recht auf Protest

Das Klima der Angst, das durch die Machtübernahme der Taliban entstanden ist, hat dazu geführt, dass viele afghanische Frauen jetzt die Burka tragen, das Haus nicht mehr ohne männlichen Vormund verlassen und andere Aktivitäten einstellen müssen, um Gewalt und Repressalien zu vermeiden.

Trotz der zahllosen Bedrohungen haben Frauen im ganzen Land Proteste organisiert.

Trotz der zahllosen Bedrohungen haben Frauen im ganzen Land Proteste organisiert. Während einige Demonstrationen friedlich abgehalten werden konnten, wurden viele von den Taliban gewaltsam unterdrückt. Am 4. September wurden etwa 100 Frauen, die an einer Demonstration in Kabul teilnahmen, von Taliban-Spezialkräften auseinandergetrieben, die in die Luft schossen und Berichten zufolge Tränengas einsetzten. 

Nazir, ein Menschenrechtsverteidiger, berichtete Amnesty International, wie sein Freund Parwiz von den Taliban schwer verprügelt wurde, nachdem er am 8. September an einer Demonstration für die Rechte der Frauen teilgenommen hatte. «Parwiz wurde während der Frauenproteste am 8. September festgenommen. Er wurde schwer gefoltert. Ihm wurde der Arm gebrochen. Er wurde in den Polizeidistrikt gebracht. Als die Taliban ihn freiliessen, zwangen sie ihn, neue Kleidung anzuziehen, weil seine Kleidung von seinem Blut durchnässt war.»

Am 8. September erliess das von den Taliban kontrollierte Innenministerium eine Anordnung, die alle Demonstrationen und Versammlungen in ganz Afghanistan verbot, «bis eine Demonstrationsverordnung erlassen wird».

Trotz der Versprechungen, dass die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia geachtet würden, wurden die Frauenrechte bereits stark eingeschränkt, die hart erkämpften Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte beginnen sich aufzulösen. So erklärte der stellvertretende Leiter der Taliban-Kulturkommission am 8. September 2021 gegenüber dem australischen Fernsehsender SBS, dass Frauen der Zugang zum Sport verwehrt werden soll, wobei er insbesondere die Cricket-Nationalmannschaft der Frauen erwähnte.

Aus verschiedenen Teilen des Landes sind zudem besorgniserregende Berichte über Frauen aufgetaucht, denen der Zutritt zu ihren Arbeitsplätzen verwehrt wurde. Es ist noch nicht bekannt, ob es sich dabei um Einzelfälle handelt oder ob sie Teil eines Musters sind. Während eine Reihe von Journalistinnen und anderen Medienmitarbeiterinnen anscheinend vorsorglich zu Hause geblieben sind, entweder aus eigenem Antrieb oder aufgrund vorsichtiger Redakteure und Verleger, gab es eine Reihe von bestätigten Vorfällen, bei denen Taliban-Kämpfer Journalistinnen daran hinderten, ihre Büros zu betreten oder vor Ort zu berichten.

Warnung vor weiterer Verschlechterung der Menschenrechtslage

Die Menschenrechtsorganisationen waren in ihrem Bericht, dass sich die Situation zunehmend verschlimmern könnte. Sie rufen den Uno-Menschenrechtsrat auf, eine unabhängige Untersuchung einzurichten und Beweise für schwere Menschenrechtsverletzungen in ganz Afghanistan zu dokumentieren, zu sammeln und zu sichern. 

«Die internationale Gemeinschaft darf die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nicht verschliessen. Wenn der Uno-Menschenrechtsrat konkrete Massnahmen verhängt, sendet dies nicht nur die klare Botschaft, dass Straflosigkeit nicht geduldet wird, sondern er trägt auch dazu bei, Verstösse auf breiterer Ebene zu verhindern. Gleichzeitig muss der Internationale Strafgerichtshof von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden, damit die in Afghanistan begangenen Völkerrechtsverbrechen eingehend untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden», sagte Juliette Rousselot, FIDH-Programmverantwortliche für Südasien.