Der Amnesty-Bericht mit dem Titel «Death in Slow Motion: Women and Girls Under Taliban Rule» deckt auf, wie Frauen, die friedlich gegen diese repressiven Regeln protestiert haben, bedroht, festgenommen, inhaftiert und gefoltert wurden.
«Jeder Aspekt des täglichen Lebens – ob sie zur Schule gehen können, ob und wie sie arbeiten, ob sie das Haus verlassen dürfen – wird kontrolliert und stark eingeschränkt.» Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
«Kaum ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan berauben deren drakonische Massahmen Millionen Frauen und Mädchen ihrer Rechte auf ein sicheres, freies und erfüllendes Leben», sagt Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International. «In ihrer Gesamtheit stellen diese Massnahmen ein System dar, das Frauen und Mädchen in fast allen Lebensbereichen unterdrückt und diskriminiert. Jeder Aspekt des täglichen Lebens – ob sie zur Schule gehen können, ob und wie sie arbeiten, ob sie das Haus verlassen dürfen – wird kontrolliert und stark eingeschränkt. Diese schonungslose Unterdrückung der weiblichen Bevölkerung Afghanistans verschärft sich Tag für Tag. Die internationale Gemeinschaft muss dringend darauf pochen, dass die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen achten und schützen.»
Amnesty International fordert die Taliban auf, die momentane Politik zu verbessern und Massnahmen zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen umzusetzen. Regierungen und internationale Organisationen, darunter alle Uno-Mitgliedstaaten und der Uno-Sicherheitsrat, müssen dringend eine solide gemeinsame Strategie ausarbeiten und umsetzen, um die Taliban zur Herbeiführung dieser Veränderungen zu bewegen.
Inhaftierung und Folter friedlicher Demonstrantinnen
Seit ihrer Machtergreifung im August 2021 sind die Taliban die De-facto-Behörden des Landes. Trotz anfänglicher öffentlicher Beteuerungen zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen haben die Taliban Massnahmen zur systematischen Diskriminierung der weiblichen Bevölkerung eingeführt.
Frauen und Mädchen in ganz Afghanistan reagierten darauf mit einer Welle von Protesten. Die Protestteilnehmerinnen waren Schikane, Misshandlung, willkürlicher Festnahme und Inhaftierung, Verschwindenlassen sowie körperlicher und psychischer Folter durch die Taliban ausgesetzt.
Vier Whistleblower aus Hafteinrichtungen der Taliban gaben an, dass die Taliban vermehrt Frauen und Mädchen festnehmen und inhaftieren, die geringfügige Verstösse gegen die diskriminierenden Massnahmen begehen: Sie verstossen etwa gegen die Regeln, indem sie sich ohne einen mahram (männlichen Begleiter) in der Öffentlichkeit zeigen, oder wenn sie mit einem Mann unterwegs sind, der nicht als mahram gilt. Den Festgenommenen wird in der Regel das vage «Vergehen» der «sittlichen Verdorbenheit» vorgeworfen.
Eine Studentin, die 2022 festgenommen wurde, sagte Amnesty International, dass sie in Verbindung mit den mahram-Regeln festgenommen und daraufhin bedroht und geschlagen worden sei.
Sie gab an, dass Angehörige der Taliban «anfingen, mir Elektroschocks zu verabreichen ... an der Schulter, im Gesicht, im Nacken, wo immer sie konnten ... Sie beschimpften mich als Prostituierte... Ein Mann mit einer Pistole drohte: ‚Ich werde dich umbringen, und niemand wird deine Leiche finden‘.»
Die Anzahl der Kinderehen, Früh- und Zwangsverheiratungen in Afghanistan steigt unter der Herrschaft der Taliban immer stärker an.
Zunahme von Kinderehen, Früh- und Zwangsverheiratung
Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass die Anzahl der Kinderehen, Früh- und Zwangsverheiratungen in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban immer stärker ansteigen. Dies wurde von in Afghanistan tätigen nationalen und internationalen Organisation sowie lokal tätigen Aktivist*innen und anderen Expert*innen bestätigt. Zu den wichtigsten Ursachen hierfür zählen die wirtschaftliche und humanitäre Krise, die fehlenden Bildungs- und Berufschancen für Frauen und Mädchen, familiärer Druck zur Heirat mit Taliban-Mitgliedern, und Druck von Taliban-Angehörigen auf Frauen und Mädchen, sie zu heiraten.
Stephanie Sinclair, Direktorin der Organisation Too Young to Wed, die zu Kinderehen, Früh- und Zwangsverheiratung arbeitet, erklärt: «In Afghanistan gibt es derzeit die perfekten Voraussetzungen für Kinderehen: eine patriarchale Regierung, Krieg, Armut, Dürre, Mädchen, die nicht zur Schule gehen – angesichts all dieser Faktoren wussten wir, dass Kinderehen sprunghaft ansteigen würden.»
Mangelnder Zugang zu Bildung
Die Taliban verweigern nach wie vor den meisten Mädchen im Sekundarschulalter den Zugang zu Bildung. Die Rückkehr von Mädchen an Schulen am 23. März 2022 war nur von kurzer Dauer. Noch am selben Tag konstatierten die Taliban ein «technisches Problem» mit den Schuluniformen und schickten die Mädchen nach Hause. Vier Monate später können sie ihr Recht auf Bildung immer noch nicht wahrnehmen.
An den Universitäten werden Studentinnen von den Taliban schikaniert und in ihren Verhaltensweisen, Kleidungs- und Teilnahmemöglichkeiten eingeschränkt. Dies hat zu einem prekären Umfeld geführt, in dem Studentinnen systematisch benachteiligt werden. Viele Studentinnen gehen mittlerweile nicht mehr zu Vorlesungen. Zahlreiche junge Frauen haben sich gleich ganz gegen ein Studium entschieden.
Internationale Gemeinschaft in der Pflicht
Amnesty International appelliert an die internationale Gemeinschaft, das Verhalten der Taliban mit Konsequenzen zu ahnden und z. B. per Resolution des Uno-Sicherheitsrats gezielte Sanktionen oder Reiseverbote zu verhängen, oder auf andere Weise Druck auszuüben, um die Taliban für ihre Behandlung von Frauen und Mädchen zur Rechenschaft zu ziehen. Die afghanische Bevölkerung darf hierbei nicht beeinträchtigt werden.
«Die Taliban sprechen vorsätzlich Millionen Frauen und Mädchen ihre Menschenrechte ab und setzen sie systematischer Diskriminierung aus», sagt Agnès Callamard. «Sollte die internationale Gemeinschaft nichts unternehmen, werden Frauen und Mädchen in Afghanistan ihrem Schicksal überlassen und die Menschenrechte rund um den Globus ausgehöhlt.»
Zu den Untersuchungen
Ermittler*innen von Amnesty International reisten im März 2022 nach Afghanistan. Die umfassenden Recherchearbeiten zu dem Bericht fanden von September 2021 bis Juni 2022 statt. Dabei sprachen Amnesty-Vertreter*innen mit 90 afghanischen Frauen und elf Mädchen im Alter von 14 bis 74 Jahren, die aus 20 der 34 Provinzen des Landes stammten.