© Amnesty International
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Afghanistan Behandlung von Frauen und Mädchen durch Taliban ist möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Medienmitteilung 26. Mai 2023, London/Bern – Medienkontakt
Die von den Taliban durchgesetzte erhebliche Einschränkung und rechtswidrige Beschneidung der Rechte von Frauen und Mädchen sollte als mögliches Verbrechen unter dem Völkerrecht untersucht werden. Amnesty International und die Internationale Juristenkommission (ICJ) sind der Ansicht, dass es sich hierbei womöglich um geschlechtsspezifische Verfolgung handelt und damit um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

In dem neuen Bericht The Taliban's war on women: The crime against humanity of gender persecution in Afghanistan (PDF,  68 Seiten in Englisch) legen Amnesty International und die Internationale Juristenkommission (ICJ) anhand einer detaillierten Analyse dar, dass die drakonischen Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan gekoppelt mit Inhaftierung und Verschwindenlassen sowie Folter und anderen Misshandlungen als geschlechtsspezifische Verfolgung gelten könnten. Hierbei handelt es sich nach Artikel 7 (1)(h) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

«Unser Bericht zeigt auf, dass alle fünf Kriterien erfüllt sind, um dieses System als geschlechtsspezifische Verfolgung und somit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen» Santiago A. Canton, Generalsekretär der ICJ

Amnesty International und die ICJ sind daher der Ansicht, dass der IStGH bei seinen derzeitigen Ermittlungen zu der Lage in Afghanistan zusätzlich untersuchen sollte, ob dort das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischen Verfolgung begangen wird. Die beiden Organisationen appellieren zudem an die Staatengemeinschaft, Angehörige der Taliban, die mutmasslich für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, mittels des Weltrechtsprinzips oder anderer rechtmässiger Massnahmen zur Verantwortung zu ziehen.

«Die Taliban verfolgen Frauen und Mädchen systematisch aufgrund ihres Geschlechts. Gekoppelt mit entsprechenden politischen Massnahmen bildet dies ein System der Unterdrückung, welches Frauen und Mädchen im ganzen Land unterdrückt und ausgrenzt. Unser Bericht zeigt auf, dass alle fünf Kriterien erfüllt sind, um dieses System als geschlechtsspezifische Verfolgung und somit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen», sagt Santiago A. Canton, Generalsekretär der ICJ.

«Seit ihrer Machtergreifung haben die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan auf drakonische Weise eingeschränkt. Dies ist zweifellos ein Krieg gegen Frauen. Sie werden aus dem öffentlichen Leben verbannt, von Bildungseinrichtungen und dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wenn sie sich gegen die Unterdrückung wehren oder die Massnahmen kritisieren, werden sie inhaftiert, fallen dem Verschwindenlassen zum Opfer und werden gefoltert. Hierbei handelt es sich um völkerrechtliche Verbrechen, die organisiert, grossflächig und systematisch begangen werden», sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin bei Amnesty International.

Der gemeinsame Bericht von Amnesty International und ICJ deckt den Zeitraum von August 2021 bis Januar 2023 ab und basiert auf zahlreichen Belegen aus verschiedenen Quellen, darunter zivilgesellschaftliche Organisationen, Agenturen der Vereinten Nationen und der Amnesty-Bericht Death in Slow Motion aus dem Jahr 2022. Dieser jüngste Bericht bietet zudem eine rechtliche Einschätzung dazu, weshalb Frauen und Mädchen, die vor Verfolgung aus Afghanistan fliehen, als Flüchtlinge betrachtet werden sollten, die internationalen Schutz benötigen. Der Bericht lobt die Arbeit von Uno-Expert*innen und Frauenrechtsgruppen als wichtige Grundlage für die nun benötigten entschlossenen Massnahmen, um für Gerechtigkeit, Rechenschaftslegung und Wiedergutmachung angesichts dieser geschlechtsspezifischen Verfolgung zu sorgen.

«Bürgerinnen zweiter Klasse»

Seit der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sind Frauen aus dem politischen Leben ausgeschlossen und dürfen im öffentlichen Dienst so gut wie keine Tätigkeiten mehr ausüben. Eine Reihe neuer Massnahmen und Regelungen hat dafür gesorgt, dass Frauen und Mädchen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen können, womit ihnen die Chance auf ein Studium genommen wird und ihre beruflichen Möglichkeiten weiter eingegrenzt werden.

Die Taliban schafften zudem den institutionellen Rahmen zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt ab, was die Rechte afghanischer Frauen und Mädchen weiter untergrub. Am 24. Dezember 2022 und am 4. April 2023 ergingen Dekrete, mit denen Frauen daran gehindert werden sollen, für NGOs und die Vereinten Nationen zu arbeiten, was ein weiterer Hinweis auf geschlechtsspezifische Diskriminierung ist. Es gibt zudem die Regel, dass Frauen nur mit einem mahram (männlichen Begleiter) längere Wege zurücklegen dürfen, und dass sie, falls nicht unbedingt nötig, das Haus nicht verlassen sollen. Darüber hinaus sind sie strengen Kleidungsregeln unterworfen. Dies alles verstösst gegen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und die Autonomie, selbst über ihre Kleidung zu entscheiden.

Die diskriminierenden Einschränkungen der Taliban verstossen gegen menschenrechtliche Garantien aus zahlreichen Menschenrechtsverträgen, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, darunter der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sowie die Kinderrechtskonvention.

Frauen und Mädchen in Afghanistan sind von Angehörigen der Taliban willkürlich festgenommen und inhaftiert worden, weil sie gegen die diskriminierende mahram-Regelung der De-facto-Behörden verstossen oder an friedlichen Demonstrationen teilgenommen haben, was als «Verbrechen gegen die Sittlichkeit» ausgelegt wurde. Frauen, die gegen die drakonischen politischen Massnahmen der Taliban protestierten, begegnete man mit exzessiver Gewalt, rechtswidriger Festnahme sowie Folter und anderen Misshandlungen, was zu Verstössen gegen die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben führte.

«Die über Frauen und Mädchen verhängten Einschränkungen sind ganz eindeutig speziell auf sie zugeschnitten. Dadurch werden ihre Rechte verletzt und ihnen wird die Möglichkeit genommen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Afghanische Frauen und Mädchen sind somit sprichwörtlich Bürgerinnen zweiter Klasse. Sie werden zum Schweigen gebracht und unsichtbar gemacht. Alles deutet darauf hin, dass diese Massnahmen sich an einer Politik der geschlechtsspezifischen Verfolgung orientieren, deren Ziel es ist, Frauen und Mädchen in beinahe allen Lebensbereichen die Handlungskompetenz abzusprechen», sagt Agnès Callamard.

Die über Frauen und Mädchen in Afghanistan verhängten Einschränkungen basieren auf Richtlinien, Entscheidungen und Regelungen, die auf Führungsebene der De-facto-Behörden der Taliban getroffen wurden. Die Befolgung dieser Regeln wird mittels zahlreicher repressiver Massnahmen durchgesetzt wie zum Beispiel Verschwindenlassen und systematische Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen. Hierzu bedienen sich die Taliban des Sicherheitsapparats der früheren Regierung, darunter auch Strukturen zur Polizeiarbeit und staatliche Einrichtungen wie Hafteinrichtungen.

In zahlreichen Fällen kam es zu willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen sowie Folter und anderen Misshandlungen gegen Frauen und Mädchen, die entweder an friedlichen Protesten teilgenommen hatten oder denen «Verbrechen gegen die Sittlichkeit» vorgeworfen wurden. Diese Vorfälle sollten gemäss Artikel 7 des Römischen Statuts als mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Inhaftierung, Verschwindenlassen und Folter) untersucht werden.

Rechenschaftslegung sicherstellen

Der Bericht von Amnesty International und ICJ enthält spezifische Empfehlungen, was die internationale Gemeinschaft tun muss, um das System der geschlechtsspezifischen Verfolgung der Taliban zu demontieren und Rechenschaftspflicht sicherzustellen.

In Kürze steht mit der 53. Sitzung des Uno-Menschenrechtsrats der erweiterte interaktive Dialog zur Lage von Frauen und Mädchen in Afghanistan an. Dies ist eine wichtige Chance für die Staatengemeinschaft, die Zivilgesellschaft und unabhängige Expert*innen, sich über die geschlechtsspezifische Verfolgung und andere mutmassliche völkerrechtliche Verbrechen unter den Taliban auszutauschen.

An seiner 54. Sitzung im Oktober dann ist der Uno-Menschenrechtsrat aufgefordert, das Mandat des Sonderberichterstatters über die Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen in Afghanistan zu verlängern und zu stärken. Zudem muss der Rat dringend Massnahmen ergreifen, um einen unabhängigen internationalen Rechenschaftsmechanismus einzurichten, der völkerrechtliche Verbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen untersucht und entsprechende Beweise für künftige Anstrengungen zur Rechenschaftslegung – z. B. faire Prozesse – zusammenträgt.