Die chinesische Regierung hat die Justizreformen der vergangenen Jahre als Fortschritt für die Durchsetzung von Menschenrechten im Land verkauft. In der Praxis hat sich jedoch wenig verändert: Die Polizei erpresst weiterhin «Geständnisse» mit Folter und Misshandlungen und die Gerichte lassen diese Geständnisse als Beweismittel zu. Anwälte und Anwältinnen, die dies im Interesse ihrer Mandanten anprangern, laufen selbst Gefahr, verhaftet und gefoltert zu werden. Für den neuen Bericht «No End in Sight. Torture and forced confessions in China» hat Amnesty International zwischen Juni und September 2015 ausführliche Interviews mit 37 Anwältinnen und Anwälten aus ganz China geführt und 590 Gerichtsurteile analysiert.
«Solange die Polizei in China allmächtig und die Justiz nicht unabhängig ist, werden Reformen im Justizsystem wenig an der weit verbreiteten Folterpraxis ändern. Wenn die Regierung die Menschenrechtssituation wirklich verbessern wollte, müsste sie dafür sorgen, dass Angehörige der Polizei- und Sicherheitsorgane für Ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden und Anwälte ihre Arbeit ohne Furcht vor Repressionen ausüben können», so Patrick Poon, China-Researcher von Amnesty International in Hong Kong.
Tang Jitian, Anwalt in Peking, schilderte gegenüber Amnesty, wie er von lokalen Polizeibeamten gefoltert wurde, als er zusammen mit drei Kollegen Berichten über Folter in einem geheimen Gefängnis in Jiansanjiang im Nordosten Chinas nachgehen wollte. Er wurde an einen Eisenstuhl gefesselt, an den Handgelenken aufgehängt und bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Yu Wensheng, ein anderer Pekinger Anwalt, verbrachte 99 Tage in Polizeihaft. Er wurde in viel zu engen Handschellen von zehn Beamten, die in drei Schichten «arbeiteten», über 200 Mal verhört.
Neben Schlägen, schmerzhaften Fesselungen und dem Ausharren in sogenannten Stresspositionen gehören Schlaf- und Nahrungsentzug zu den gängigen Foltermethoden in China. «Welche Hoffnung können gewöhnliche Angeklagte in einem Land haben, in dem selbst ihre Anwälte von der Polizei derart gefoltert werden?», so Patrick Poon.
In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Sicherheitsorgane zunehmend auf die gesetzlich neu festgeschriebene Möglichkeit berufen, Personen als Bedrohung für die «Sicherheit des Staates» einzustufen und sie aufgrund dessen bis zu sechs Monate unter Hausarrest zu stellen. De facto entspricht dieser «Hausarrest» einer neuen Form von «Incommunicado-Haft» gleich. Das Risiko, unter diesen Umständen ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt gefoltert zu werden, ist besonders gross. Betroffen von diesen Repressionen sind sogenannte «politische Fälle», wie Regimekritikerinnen und Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten. Gegenwärtig werden auch zwölf Anwälte und Aktivistinnen, die im Rahmen der grossen Verhaftungswelle Mitte Juli verhaftet worden waren, an solch geheimen Orten festgehalten.
In den 590 von Amnesty analysierten Gerichtsurteilen, in denen die Anwälte gegen die Zulassung von unter Folter erpressten «Geständnissen» protestiert haben, bekamen sie nur in 16 Fällen Recht. In keinem einzigen Fall kam es zu einem Freispruch.
Kommende Woche wird das Anti-Folter-Komitee der Uno in Genf die Situation in China beleuchten. Amnesty International richtet im heute veröffentlichten Bericht «No End in Sight. Torture and forced confessions in China» detaillierte Empfehlungen an die chinesische Regierung und fordert sie auf, dafür zu sorgen, dass
- Anwältinnen und Anwälte ihrer Arbeit ohne Furcht vor Folter und Repression nachgehen können;
- unter Folter erpresste «Geständnisse» nicht mehr vor Gericht verwendet werden können,
- die chinesische Gesetzgebung und Rechtsanwendung in Einklang mit dem absoluten Folterverbot des internationalen Rechts gebracht wird.