Solidaritätskundgebung im Dezember 2022 vor der Chinesischen Botschaft in Berlin © 2022 Getty Images
Solidaritätskundgebung im Dezember 2022 vor der Chinesischen Botschaft in Berlin © 2022 Getty Images

China – Länderübergreifende Repression Drangsalierung und Überwachung chinesischer Studierender im Ausland

Medienmitteilung 13. Mai 2024, London/Bern – Medienkontakt
Junge Leute aus China oder Hongkong, die im Ausland studieren, werden von den chinesischen Behörden eingeschüchtert, drangsaliert und überwacht. Sie sollen davon abgehalten werden, sich mit ‚sensiblen‘ oder politischen Themen zu befassen. Auch chinesische Studierende in der Schweiz sind von Repressalien betroffen, wie ein neuer Bericht von Amnesty International aufzeigt.

Für den Bericht «On my campus, I am afraid» hat Amnesty International mit chinesischen Studierenden in Europa und Nordamerika gesprochen, die erklärten, sie seien während der Teilnahme an Protestaktionen oder sonstigen Veranstaltungen fotografiert und beschattet worden. Viele gaben an, ihre Familien in China seien ebenfalls unter Druck geraten und von der Polizei bedroht worden.

«Diese Art der länderübergreifenden Repression durch China stellt eine ernste Bedrohung für den freien Gedankenaustausch dar, der das Herzstück der Forschungsfreiheit ist. Regierungen und Universitäten müssen mehr tun, um dem entgegenzuwirken.» Sarah Brooks, Expertin für China bei Amnesty International

«Dieser Bericht zeichnet ein erschreckendes Bild davon, wie die Regierungen Chinas und Hongkongs versuchen, Studierende selbst dann in ihrer freien Meinungsäusserung einschränken, wenn sie Tausende Kilometer von zu Hause entfernt sind. Folglich leben viele Studierende in ständiger Angst», sagte Sarah Brooks, Expertin für China bei Amnesty International.

«Um den Einsatz für die Menschenrechte zu unterdrücken, nehmen die chinesischen Behörden Studierende aus China und Hongkong in zahlreichen Universitäten im Ausland ins Visier. Diese Art der länderübergreifenden Repression durch China stellt eine ernste Bedrohung für den freien Gedankenaustausch dar, der das Herzstück der Forschungsfreiheit ist. Regierungen und Universitäten müssen mehr tun, um dem entgegenzuwirken.»

Der neue Amnesty-Bericht erfasst auf bisher beispiellose Weise, wie die chinesische Regierung Studierende an ausländischen Universitäten ihrem System der Unterdrückung unterwirft. Amnesty International führte ausführliche Interviews mit 32 chinesischen Studierenden – zwölf davon aus Hongkong – an Universitäten in acht Ländern: Belgien, Kanada, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Grossbritannien, den Niederlanden und den USA.

Überwachung, Zensur und Verfolgung von Familienmitgliedern

In den vergangenen Jahren wagten es zahlreiche chinesische Staatsangehörige, die im Ausland studierten, ihre Regierung öffentlich zu kritisieren, so zum Beispiel im Rahmen der Proteste gegen die Null-Covid-Strategie der Regierung auf dem chinesischen Festland im Jahr 2022, oder während der prodemokratischen Proteste in Hongkong 2019 und den alljährlichen Gedenkveranstaltungen zur Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz 1989.

Der Amnesty-Bericht zeigt auf, wie solche Aktivitäten die Aufmerksamkeit der chinesischen Behörden auf sich ziehen – und welche Konsequenzen daraus folgen können. In dem Bericht wird dieses Phänomen als länderübergreifende Repression bezeichnet: staatliche Massnahmen, die darauf abzielen, die abweichenden Meinungen bzw. die Kritik durch Chines*innen im Ausland zu kontrollieren oder zu unterbinden – ein klarer Verstoss gegen die Menschenrechte der Betroffenen.

Fast ein Drittel der von Amnesty interviewten Studierenden gab an, dass chinesische Staatsbedienstete auch ihre Familien schikaniert hätten, um weitere Kritik an der Regierung bzw. der Regierungspolitik zu verhindern. Den Familienmitgliedern auf dem chinesischen Festland wurde u. a. damit gedroht, ihre Pässe einzuziehen, ihnen zu kündigen, ihre Möglichkeiten auf Beförderung und Rentenleistungen einzuschränken oder ihre Bewegungsfreiheit zu beschneiden. In mindestens drei Fällen wurden Familienangehörige in China gar von der Polizei unter Druck gesetzt bzw. angewiesen, ihren Kindern die finanzielle Unterstützung zu entziehen, um diese zum Schweigen zu bringen.

Der lange Arm der chinesischen Regierung

Mehrere Studierende berichteten Amnesty International, dass sie überzeugt seien, im Ausland von den chinesischen Behörden oder deren Vertreter*innen überwacht worden zu sein. Fast die Hälfte der Gesprächspartner*innen gab an, bei Veranstaltungen wie z. B. Protesten von Personen fotografiert oder aufgenommen worden zu sein, von denen sie annahmen, dass diese im Auftrag der chinesischen Regierung handelten.

Zwar konnten die Studierenden die Identität dieser Personen nicht eindeutig nachweisen, doch die Recherchen von Amnesty zeigten ein Muster nahezu identischer Überwachungsformen an verschiedenen Orten und in verschiedenen Situationen auf, was den Überzeugungen der Studierenden Glaubwürdigkeit verlieh.

«Für viele chinesische Studierende bietet ein Auslandsaufenthalt die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, ohne im politischen und akademischen Diskurs denselben Beschränkungen wie in ihrem Heimatland unterworfen zu sein. Die Recherchen von Amnesty International zeigen jedoch, dass diese jungen Leute der Unterdrückung durch die Regierung selbst ausserhalb Chinas nicht entkommen können», erklärt Sarah Brooks.

«Die chinesischen Behörden haben eine ausgefeilte Strategie entwickelt, um die Menschenrechte von Studierenden überall auf der Welt zu beschneiden. Die Überwachung von Studierenden im Ausland und die gezielte Drangsalierung ihrer in China lebenden Familienangehörigen ist eine systematische Taktik, um chinesische Staatsbürger*innen aus der Ferne zu kontrollieren.»

Weltweite Kontrolle aufgrund der «Great Firewall»

Die Fähigkeit der chinesischen Behörden, Studierende im Ausland zu überwachen, ist zu einem nicht unerheblichen Teil den Zensur- und Überwachungsressourcen geschuldet, die in das als «Great Firewall» bekannte chinesische Internet-Kontrollsystem investiert werden. Dadurch sind Studierende für die Kommunikation mit ihren Verwandten und Freund*innen in China auf Internetanwendungen angewiesen, die von der Regierung abgesegnet und daher anfällig für Überwachung sind.

Mehr als die Hälfte der von Amnesty interviewten Studierenden gab an, bei Gesprächen und Beiträgen auf digitalen Plattformen Selbstzensur zu üben, aus Sorge, dass die chinesischen Behörden ihre Aktivitäten überwachten; dies galt auch für nicht-chinesische Social-Media-Plattformen wie X, Facebook und Instagram. Mehrere Studierende hatten einschlägige Nachweise für diese Art der digitalen Überwachung. So legte die Polizei in China den Eltern einer*s Studierenden deren WeChat-Konversationen mit Familienangehörigen vor.

Fast ein Drittel der befragten Studierenden hatte auf chinesischen Social-Media-Plattformen wie WeChat im Ausland eine ähnlich starke Zensur erlebt wie in Festlandchina. Einige versuchten, Social-Media-Konten über ausländische Telefonnummern zu registrieren, sahen sich aber dennoch mit Zensur konfrontiert. Das WeChat-Konto eines*r Studierenden wurde vorübergehend gesperrt, nachdem er*sie über eine Protestaktion in Deutschland gegen die Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung berichtet hatte.

Klima der Angst auf dem Campus

Praktisch alle Studierenden, mit denen Amnesty International gesprochen hat, gaben an, dass sie ihre sozialen Interaktionen im Ausland in irgendeiner Weise selbst zensierten, weil sie sich vor Vergeltungsmassnahmen der chinesischen Behörden fürchteten. Die meisten von ihnen erklärten, dass sie ihre Unterrichtsbeiträge einschränkten, weil sie das Risiko sahen, dass ihre Beiträge und Meinungen den chinesischen Behörden gemeldet werden könnten. Ein Drittel der Studierenden gab an, dass dieses Risiko sie dazu veranlasste, den Schwerpunkt ihres Studiums zu ändern oder eine mögliche akademische Laufbahn ganz aufzugeben.

Mehr als die Hälfte der Studierenden gab an, unter psychischen Problemen zu leiden, die von Stress und Trauma bis hin zu Paranoia und Depressionen reichten und in einem Fall zu einem Krankenhausaufenthalt führten. Acht Studierende gaben im Gespräch mit Amnesty International an, nicht mehr mit ihren Verwandten in China zu kommunizieren, um sie vor Repressalien durch die chinesischen Behörden zu schützen. Dadurch fühlten sie sich abgeschnitten und einsam.

Fast die Hälfte der Studierenden gab an, Angst vor der Rückkehr in ihre Heimat zu haben, und sechs von ihnen erklärten, sie sähen keine andere Möglichkeit, als nach ihrem Studium politisches Asyl zu beantragen, da sie befürchteten, bei einer Rückkehr nach China verfolgt zu werden.

Universitäten leisten keine ausreichende Unterstützung

Es gibt geschätzt mehr als 900’000 Chines*innen, die im Ausland studieren. Amnesty International fordert die Gastgeberländer und Universitäten auf, mehr zu unternehmen, um die Rechte jener Studierenden zu schützen, denen länderübergreifende Unterdrückung droht.

«Dieser Bericht kann und sollte die Regierungen der Aufnahmeländer in die Lage versetzen, konkrete Massnahmen zu ergreifen, um dem beschriebenen Klima der Angst unter chinesischen Studierenden entgegenzuwirken. So könnten beispielsweise Aufklärungsmassnahmen ergriffen und Mechanismen zum Anzeigen entsprechender Vorfälle eingerichtet werden. Zudem sollten die Regierungen diese Übergriffe öffentlich anprangern», sagte Sarah Brook.

Länder, in denen sich Studierende aus China oder Hongkong aufhalten, darunter die Schweiz, haben die Pflicht, internationale Studierende zu schützen.

Anfang 2024 wandte sich Amnesty International an 55 führende Universitäten in den acht untersuchten Ländern, um sich nach den bestehenden Vorkehrungen zum Schutz von Studierenden vor länderübergreifender Repression zu erkundigen. Einige Universitäten hatten zwar Ressourcen für die Unterstützung der Menschenrechte von Studierenden im Allgemeinen bereitgestellt, doch die meisten dieser Ressourcen schienen nicht geeignet zu sein, um die in dem Bericht aufgezeigten speziellen Probleme chinesischer Studierender wirksam anzugehen.

Aus der Schweiz gingen Antworten der ETH Zürich, der EPFL in Lausanne und der Universität Genf ein. Die Universität Zürich lehnte eine Antwort ab, mit dem Hinweis, dass ihr keine relevanten Vorfälle auf ihrem Campus bekannt seien.

«Universitäten in Europa und Nordamerika sind sich der länderübergreifenden Unterdrückung und des daraus resultierenden lähmenden Klimas auf ihrem Campus oft nicht bewusst und sind entsprechend schlecht aufgestellt, um damit umzugehen», sagte Sarah Brook.

«Die Universitäten und die Regierungen der Gastländer tragen zwar die Verantwortung für den Schutz der Studierenden, aber letztlich sind die chinesischen Behörden die Hauptverantwortlichen für die in dem Bericht beschriebenen Repressionen. Wir fordern die Behörden in Peking und Hongkong auf, alle Praktiken länderübergreifender Unterdrückung einzustellen und es den chinesischen Studierenden im Ausland zu ermöglichen, sich auf ihr Studium zu konzentrieren, ohne um ihre Sicherheit fürchten zu müssen».

* Alle Namen der Studierenden und ihrer Universitäten wurden im Bericht aus Sicherheitsgründen anonymisiert.