In der Nacht zum 3. Dezember 1984 kam es im indischen Bhopal zu einem der schlimmsten Industrieunfälle des letzten Jahrhunderts: In einer Pestizidfabrik der Union Carbide Corporation (UCC) explodierte ein Gastank mit Methylisocyanat (MIC). Etwa 10‘000 Menschen kamen unmittelbar bei der Chemiekatastrophe ums Leben, rund 150'000 starben in den folgenden 20 Jahren.
Bis heute hat es der US-amerikanische Chemiekonzern Dow – als Nachfolger von UCC – versäumt, die Opfer des tödlichen Gaslecks zu entschädigen und die Folgen der Katastrophe einzudämmen. Aus dem betroffenen Gebiet ist eine sogenannte «Opferzone» geworden, in der 500‘000 Menschen weiterhin an den Folgen der Katastrophe leiden und auch heute noch erkranken. Zu diesem Ergebnis kommt Amnesty International in einem neuen Bericht, den die Menschenrechtsorganisation im Vorfeld des 40. Jahrestages einer der schlimmsten Industriekatastrophen der Welt veröffentlicht.
Der englischsprachige Bericht «Bhopal: 40 years of Injustice» erscheint nur wenige Tage vor der Jahreshauptversammlung der Dow-Aktionär*innen am 11. April. Er macht deutlich, dass die Forderung nach Gerechtigkeit und Entschädigung für die Überlebenden von Bhopal nicht an Aktualität verloren hat.
«Diese Katastrophe ist für diejenigen, deren Gesundheit ruiniert ist, deren Kinder mit Behinderungen geboren werden oder die weiterhin durch den verseuchten Boden und das verseuchte Wasser vergiftet werden, allgegenwärtig. Es muss dringend Abhilfe geschaffen werden.» Mark Dummett, Leiter des Bereichs Wirtschaft und Menschenrechte von Amnesty International.
Amnesty International ruft sowohl Unternehmen als auch Staaten dazu auf, Dow keine Aufträge mehr zu erteilen, bis das Unternehmen seine menschenrechtliche Verantwortung anerkennt und umgehend wirksame Massnahmen ergreift, um die verursachten Schäden zu beheben.
«Diese Katastrophe ist für diejenigen, deren Gesundheit ruiniert ist, deren Kinder mit Behinderungen geboren werden oder die weiterhin durch den verseuchten Boden und das verseuchte Wasser vergiftet werden, allgegenwärtig. Es muss dringend Abhilfe geschaffen werden», sagte Mark Dummett, Leiter des Bereichs Wirtschaft und Menschenrechte von Amnesty International. «Das Durchhaltevermögen und die Entschlossenheit der Überlebenden der Bhopal-Katastrophe und derjenigen, die sich seit Jahrzehnten für Gerechtigkeit einsetzen, sind wirklich bemerkenswert und inspirierend. Wohingegen die Menschenrechte auch heute noch verletzt und den Betroffenen verweigert werden.»
Zum Zeitpunkt der Katastrophe befand sich das Werk im Besitz der Union Carbide Corporation (UCC) mit Sitz in den USA. Der Konzern UCC wurde später von Dow übernommen, der ebenfalls in den USA ansässig ist. Dow lehnt jede Haftung ab. Die Reaktionen der Unternehmen finden Sie im Anhang des Berichts.
Noch immer verseucht
Der Bericht von Amnesty International kommt zu dem Schluss, dass das Gebiet um die Anlage nach wie vor so stark verseucht ist und die gesundheitlichen Folgen des vergifteten Grundwassers und Bodens für die dort lebenden Menschen so schwerwiegend sind, dass man von einer «Opferzone» sprechen muss.
Als Opferzonen werden Gebiete bezeichnet, die infolge von Verschmutzung durch Unternehmen so starke Veränderungen erfahren haben, dass viele oder alle der dort ansässigen Lebewesen durch katastrophale und dauerhafte Gesundheitsschäden massiv beeinträchtigt werden oder ihr Leben dort vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr aufrechterhalten können. Betroffen sind insbesondere marginalisierte Gruppen.
Der Bericht benennt ausserdem Umweltrassismus als Ursache für die Katastrophe und ihre Folgen. Als Umweltrassismus wird rassistische Diskriminierung beispielsweise bei der Umsetzung von belastenden Projekten oder die überdurchschnittliche Belastung einzelner Bevölkerungsgruppen durch Umweltverschmutzung verstanden.
Auch der Betrieb einer Pestizidfabrik, in der hochgiftige Chemikalien gelagert und verarbeitet werden, inmitten eines dicht besiedelten Armenviertels der Millionenstadt Bhopal, in dem überwiegend muslimische Menschen und Angehörige der unteren Kasten in oft informellen Hütten leben, lässt sich unter diesem Begriff fassen. Die Standards für die Wartung und Überwachung des Werks lagen weit unterhalb der Standards vergleichbarer UCC-Anlagen in den USA.
Viele, die das Unglück zunächst überlebten, litten später unter massiven Gesundheitsproblemen wie chronischen Atemwegs- oder Immunsystemerkrankungen. Bis heute starben etwa 22‘000 Menschen vorzeitig. Zahllose weitere haben mit bleibenden Schäden zu kämpfen.
Ein unverhältnismässig hoher Prozentsatz der Kinder, deren Eltern dem Gas ausgesetzt waren, wurde mit Behinderungen oder Erbkrankheiten geboren. Die Zahl der Fehl- und Totgeburten liegt in den betroffenen Gemeinden weit höher als üblich.
Amnesty International dokumentierte bereits in einem früheren Bericht, dass ein Vergleich zwischen UCC und der indischen Regierung im Jahr 1989 ungerecht und unzureichend war und verwaltungstechnische Fehler aufwies.
Im Jahr 1994 gab UCC die Anlage auf, ohne eine Umweltsanierung durchzuführen oder sich um die grosse Menge an Chemieabfällen zu kümmern, die die Pestizidproduktion verursacht hatte. Das Grundwasser und der Boden in der Umgebung sind nach wie vor stark verschmutzt. Dies hat zu verheerenden und anhaltenden Gesundheitsschäden bei den Anwohner*innen geführt. Auch Chromosomenanomalien, die bei jüngeren Menschen auftreten und denen ähneln, die bei älteren diagnostiziert wurden, die dem Gasleck direkt ausgesetzt waren, werden damit in Verbindung gebracht.
Amnesty International dokumentierte bereits in einem früheren Bericht, dass ein Vergleich zwischen UCC und der indischen Regierung im Jahr 1989 ungerecht und unzureichend war und verwaltungstechnische Fehler aufwies. Damals wurden jedem Opfer im Durchschnitt etwa 500 US-Dollar Entschädigung zugesprochen. In dem Bericht wird ein Dow-Sprecher zitiert, der nach der Übernahme von UCC im Jahr 2001 um eine Stellungnahme zu diesem Vergleich gebeten wurde. Er sagte: «500 US-Dollar sind für einen Inder eine Menge.»
Der Bericht zeigt, wie die US-Regierung – manchmal durch verdeckte Lobbyarbeit – Druck auf die indische Regierung ausübte, damit amerikanische Staatsangehörige der Strafverfolgung entgehen konnten. Auslieferungsgesuche oder die Zustellung von Gerichtsvorladungen an Dow wurden vereitelt oder verzögert. Damit trug die US-Regierung dazu bei, die Unternehmen vor Versuchen zu schützen, sie zur Verantwortung zu ziehen. So wurde die ungleiche Machtdynamik weiter verstärkt. Umgekehrt ist es unvorstellbar, dass ein indisches Unternehmen, das auf US-amerikanischem Boden tätig ist und dort 22‘000 Amerikaner*innen tötet, mit Unterstützung des indischen Staates der amerikanischen Justiz entkommen kann.
Dow muss Verantwortung übernehmen
Amnesty International fordert Dow in ihrem Bericht unter anderem auf, über seine Verantwortung im Zusammenhang mit der Bhopal-Katastrophe Bericht zu erstatten und die entsprechenden Ergebnisse unverzüglich zu veröffentlichen. Grundlage dieser Forderung sind die Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, zu denen sich Dow öffentlich bekennt. Ausserdem fordert Amnesty International die Unternehmensgruppe und die US-Regierung auf, bei allen rechtlichen Verfahren, einschliesslich der in Indien laufenden Strafverfahren, Unterstützung zu leisten.
Dow und UCC müssen zudem alle Überlebenden angemessen entschädigen und den über mehrere Generationen hinweg Geschädigten Wiedergutmachung leisten. Beide Unternehmen sollen einen angemessenen Beitrag zu einer Kontaminierungsbewertung und -sanierung sowie zur kostenlosen Bereitstellung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für die Betroffenen und zur künftigen Gesundheits- und Umweltüberwachung leisten.
Der indische Staat und die lokalen Behörden müssen die zuverlässige Versorgung der betroffenen Gemeinden mit sauberem Wasser sicherstellen. Ausserdem müssen sie für die gerechte, rasche und transparente Verteilung aller ausstehenden Entschädigungszahlungen sorgen, die sich noch in den Händen der Regierung befinden. Jede versäumte erforderliche Hilfeleistung für die Betroffenen, oder zu Unrecht verweigerte Entschädigung, muss ausgeglichen werden. Amnesty International fordert die indische Regierung auf, im Namen der Betroffenen weiterhin rechtliche Abhilfe von Dow einzufordern. Ausserdem soll jede politische Partei eine Entschädigungszusage in ihr Wahlprogramm für die bevorstehenden Wahlen in Indien aufnehmen.